Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 24./25. Januar 1856, mit Beischrift von Charlotte Haeckel

Berlin 24 Januar 56.

Mein lieber Ernst!

Du wirst wahrscheinlich schon recht auf einen Brief von uns gewartet haben. Aber es gab fast alle Tage etwas zu kramen. Zudem nimmt meine Kur einen Theil des Vormittags hinweg. Das lange Stubensitzen im December hatte meine Verdauung in Unordnung gebracht, so daß sie noch nicht wieder hergestellt ist. Ich muß jetzta alle Morgen Magnesia Waßer trinken und dabei spatzieren gehen, das geschieht früh um 8 Uhr im Thiergarten, wohin ich in ¼ Stunde gehe (erst am Kanal, dann durch die Matthäikirchstraße). Von da gehe ich in die freundlichen Bäder um ein Bad zu nehmen und dadurch die Blutgeschwüre, die mich noch immer und gerade jetzt vorn am Halse inkommodiren, zu vertreiben. So komme ich gewöhnlich erst um halb 11 Uhr zum Frühstük und lese dann gewöhnlich bis 2 Uhr. Gegen 5 Uhr gehe ich wieder aus und mache Besuche oder Besorgungen in der Stadt, komme dann nach 7 Uhr nach Hause, lese oder schreibe, um halb 9 Uhr wird Abendbrod gegeßen und dann noch bis nach 10 Uhr gelesen, nach 11 Uhr schlafen gegangen. So ist unser Tagewerk. Mutter wird seit 8 Tagen auch mehr wie sonst von dem FlechtenUebel geplagt, die Augen thun ihr weh, sie kann wenig lesen und schreiben und macht gewöhnlich mit Adolph Schubert Abends vor Tisch eine Parthie Schach. Sie ist aber jetzt sehr dahinter her, daß das Uebel nicht wieder um sich greift, nimmt auch wöchentlich 2 Mahl Bäder im Hause. Tante Bertha ist seit 14 Tagen sehr krank gewesen, so daß ich sie nicht gesehen habe, jetzt aber außer Gefahr. Morgen erwarten wir Carl und ich werde wahrscheinlich mit ihm zu Richter nach Mariendorf [gehen], deßen Geburtstag ist. Sie haben sich nun in Freyenwalde in ihrem wirklichen Quartier, was sie statt Ostern schon jetzt beziehen konnten, schon etwas eingewohnt, Carl wird dort nicht so viel zu thun haben und leichter auf einige Tage abkommen können, da er einen Collegen am Orte hat, der ihn vertreten kann. Wir hoffen ihn also öfterer hier zu sehn.

– Vorige Woche starb mein alter Freund, der Minister Eichhorn, 77 Jahr alt. 1. Januar starb Präsident v. Grollmann. Ich habe also in 1 Monat 2 Freunde verloren. Der Tod mäht gewaltig unter meinen Freunden, die in den 70ger sind. Ich werde immer fremder in der Welt und ziehe mich immer mehr auf meine Familie zurük. Dazu kommt, dass das politische Getreibe immer unerträglicher wird. Die Junker werden immer frecher und übermüthiger unter ihrem mächtigen Patron. Es ist als ob der Unverstand und die Tollheit regierte. Aber auch solche Perioden müßen die Völker durchmachen, sie sind selbst Schuld daran durch ihre Dummheit und Apathie. Hätten unsre dummen Bauern nicht so elende Wahlen getroffen und sich aus Servilismus durch die Landräthe einschüchtern laßen, so würde es nicht so schlimm geworden sein. Nun Gott regiert die Welt, auch dieser Durchgangspunkt muß nöthig sein, sonst hätte ihn Gott nicht zugelaßen.

– Ich bin in den letzten Wochen auch ökonomisch beschäftigt gewesen, Mutter undb ich haben die Jahresrechnungen abgeschloßen und dadurch die Ueberzeugung gewonnen, daß wir ohne das Kapital anzugreifen, in dem schweren Jahr 1855c durchgekommen sind. ||

Unser Hauptgesichtspunkt sind unsre Kinder, sie sollen genöthigt sein, sich anzustrengen und etwas Tüchtiges zu leisten, aber auch gegen Nahrungssorgen und zu große Abhängigkeit gesichert sein, so daß sie eine wesentliche Zubuße haben und mit dieser und ihrem eigenen Verdienst auszukommen im Stande sind. – Sehr viel Umstände macht uns jetzt Schubert. Sein Krankheitszustand hat sich verschlimmert, er ist bei vollkommnen Verstande, aber ohne allen Entschluß, alle Augenblike will er etwas anders. Die Aerzte in Kiel und hier haben ihm erklärt: er müße entweder eine bestimmte Beschäftigung treiben oder in die Anstalt zurük. Das letzte will er nicht und zum ersten hat er keinen Willen und keine Kraft. Zum Maerz muß er das Quartier bei unsd räumen (was ein wahres Glük ist) und da er zu keinem Entschluß kommen wird, eund nicht weis was er machen soll, so wird er zuletzt doch der Anstalt anheimfallen. Jede Stunde will er etwas anders, in der nächsten hebt er auf, was er in der vorhergehenden beschloßen hat und so treibt er sich willenlos und planlos umher. Jetzt sichert ihm noch der Aufenthalt bei uns eine gewiße Häuslichkeit, das kann aber nicht so fortdauern, denn besonders Mutter sucht ihn stundenlang vergeblich zu recht zu bringen. Kommt er außer unserm Haus, dann ist er ganz verloren, das sieht er sehr klar ein und darum wird ihn dieses nöthigen, in die Anstalt nach Kiel, wo sie ihn und seinen Zustand genauer kennen und wo er gut aufgehoben ist, zurükzukehren. Er hat die Anstalt zu zeitig verlaßen, er war nicht mehr darin zurükzuhalten. Jetzt, nachdem die Sachen so kommen, führen Mutter und ich gegen ihn eine sehr feste und bestimmte Sprache und wir haben ihm rund erklärt, daß ihm nichts übrig bleibe, als in die Anstalt zurükzukehren. –

Teuscher ist noch hier und vollendet in diesen Tagen seine schriftlichen Examensarbeiten, so daß er nun wohl bald angestellt werden wird. Im Reimerschen Hause ist alles wohl und Weiß besuche ich alle Woche, auch Passows besuche ich zuweilen und die jungen Mädchen auch uns. Gestern war die Mutter Passow bei uns. Der Sohn ist in Schulpforte als Lehrer angestellt.

– Gelesen habe ich in den letzten Wochen wenig. Aber es liegen mir mehrere vor, die ich nun bald vornehmen werde, Bunsen Zeichen der Zeit, (eine Schrift gegen Stahl, die viel Aufsehen macht,) mehrere historische Werke etc. Adolph versucht auch zu lesen, hält aber bei nichts aus und kommt zu keiner ernstlichen Lektüre.

– Deine Mittheilungen über die dortigef Universität habe ich Lachmann mitgetheilt, der gestern Abend bei uns war. Heute ist große Feier von Friedrich II. Geburtstag in der Akademie, wo Johannes Müller einen naturwißenschaftlich historischen Vortrag halten wird. Dienstag ist der Studentenball, wo Lachmann viel zu tanzen gedenkt, da er im letzten Jahr viel Bekanntschaften gemacht hat. Auch im Passowschen Hause ist er bekannt worden. Es ist in dem gegenwärtigen Karneval ein gewaltiges Getreibe, fastg täglich große Hoffeste, Assembleen, Concerte, Theater, Oper etc. so daß viele die Besinnung verlieren möchten, wenn sie überhaupt dergleichen habenh. Festliche Trauer Cortége wechseln mit Hof- und Freudenfesten. Wir in unserm glüklicher Weise vor der Stadt gelegenen Quartier, mit dem wir höchst zufrieden sind, machen den Zuschauer von Ferne und erfahren die Dinge am andern Morgen durch die Zeitung oder wenn wir durch die Stadt gehen, durch das Fahren der vielen Karoßen und die erleuchteten Säle. Ich fühle mich ganz glüklich in dieser Abgeschiedenheit. ||

Das Wiedererwachen des Christenthums, das vor 50 Jahren begann, ist doch jetzt in eine wirkliche Krankheit ausgeschlagen, es ist zur Fratze geworden. Gott bewahre mich vor solcher Frömmelei. Es ist so weit gekommen, daß religiös und politisch alles verketzert wird, was in den letzten 100 Jahren geschehen ist, der Liberalismus, der Rationalismus, die Ansprüche, welche ein Volk auf eine vernünftige Regierung macht; das Wirken der gesunden Vernunft, alles ist Teufelswerk. Die Reaktionairs sind in eine wahre Raserei gerathen. Wenn sie vor Christus erschienen, so würde er sagen: ich kenne i euch nicht, weichet von mir, ihr Uebelthäter. Indes ist doch auch die Opposition gegen dieses Unwesen sehr thätig. Bunsen‘s „Zeichen der Zeit“ haben wie ein Blitzstrahl eingeschlagen. Das Buch soll seine Schwächen haben, aber es sind schon 2 Auflagen vergriffen, worüber sich die Frömmler sehr beschweren. Wenn man hier das Getreibe dieser Menschen sieht (besonders auch in den Kammern) so wird einem ganz übel. Heuchelei, Herrschsucht, Hochmuth, Eigennutz, treten ganz ungeschminkt hervor und darüber wird der christliche Mantel gehangen. Ich bin von dem göttlichen Wesen Christi aufs innigste überzeugt, er ist zur Beseligung der Menschen in die Welt gekommen, er hat uns ein wahres Bild von Gott gegeben, uns in ein richtiges Verhältniß zu ihm gesetzt, so daß wir an diesem Gott der Liebe nie verzweifeln; er hat uns auf unsre sündhafte Natur aufmerksam gemacht und uns die Wege zur Wiedergeburt gezeigt. Aber da sperren viele die Mäuler auf und meinen: die göttliche Gnade soll ihnen ins Maul geflogen kommen. Das führt zu einer unnatürlichen Passivität. Wenn ich aber gegen die Sünde ernsthaft kämpfe und Gott den redlichen Willen sieht, dann sendet er uns auch seine Kraft, er läßt in uns das Gefühl eines höhern Lebens einströmen, vor dem das sündliche Leben in den Staub fällt. Das Christenthum besteht nicht in der Orthodoxie, sondern in einer innern Gesinnung, die uns gegen das rein irdische, vergängliche Treiben stählt, uns die Aussicht auf ein höheres Leben eröfnet, aber auch schon j in diesem Leben ein Reich Gottes aufrichten will. In einem k Hause, wo solche Zucht, solche Innerlichkeit, solches Verachten irdischen Tands ist, wie in dem unsres Vaters Sethel, da ist Christenthum, und doch würden ihn die Frömmler, wenn sie ihn gekannt hätten, als einen Nicht-Christen verketzert haben. Aber welche Unschuld, welche hohe Sittlichkeit war in diesem Mann und seiner schon früher verstorbenen Frau, die ich sehr geliebt habe. Sie jagten nicht äußerem Ruhm und Ehre und Eitelkeit nach, sie führten ein stilles christliches Leben und erzogen ihre Kinder in sittlicher Zucht und Gottesfurcht. Keine Lockungen der Eitelkeit konnten unseren Papa verleiten, seine Ueberzeugung aufzugeben, ohne Furcht, ohne Rüksicht, ob sie allerhöchsten Orts misfielen, hat er sie ausgesprochen. Das ist Christenthum. Wo soll die Achtung vor diesen Frömmlern herkommen, wenn man sieht, wie sie nach höherer Gunst jagen, um sich äußere Ehre und gutes Einkommen zu sichern, wie sie hochmüthig und herrschsüchtig gegen die niedern Stände sind und diese am liebsten wieder in Knechtschaft brächten. Daß auch der Geringste nach seinem Recht fragt, ist ihnen ein Greuel. – So könnte ich Dir Stunden langm vorlamentiren und ich habe ganze Tage voll Galle. Aber Geschichte und Religion dämpfen zuletzt diesen Aerger.

– Für heute genug. Dein Dich liebender Vater Hkl

[Beischrift von Charlotte Haeckel]

25/1 56.

Mein lieber Herzens Ernst!

Schon längst wollte ich Dir danken für Deinen lieben, lieben Brief, kam aber anfangs nicht || dazu; und in den letzten Tagen habe ich es absichtlich gelassen, weil Karl schrieb er werde heute herkommen und einen Brief an Dich mitbringen. –

Wie sehr, mein lieber Ernst, hat mich Dein Brief erfreut, es war mir als müßte ich Dich an mein Herz drücken. Gott gebe Dir Kraft, daß Du so fort wandelst; und mit frischem Muth auch Dein irdisches Tagewerk treibst, als ein von Gott gegebenes. A. Schubert läßt schön grüssen und dankt schön für das Buch. Der arme Mensch; wenn man da nur eine wirkliche Besserung sähe; aber in einer Stunde so, in der nächsten anders.

– Tante Bertha geht es doch in den letzten Tagen etwas besser. Auch mit Häckels Geschwüren bessert es sich, daß ich hoffe es werden keine neuen mehr kommen. Von mir will ich Dir nur noch ganz geschwinde sagen, daß ich mich sehr freue, Dich nun bald bei uns zu haben. Mit der herzlichsten Liebe umarmt Dich Deine Mutter. – –

a eingef.: jetzt; b einge.: und; c eingef.: in dem schweren Jahr 1855; d eingef.: bei uns; e gestr.: wi; f eingef.: dortige; g eingef.: fast; h eingef.: haben; i irrtüml. wiederholt: ich; j gestr.: in; k gestr.: solchen; l gestr.: Vater; m eingef.: lang

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
25.01.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35902
ID
35902