Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 23. Januar 1856

Freienwalde a/O. den

23 Januar 1856.

Lieber Bruder

Heute endlich entledige ich mich der schon lange mich drückenden Last Dir seit Ziegenrück noch nicht wieder geschrieben zu haben. Wenn Du etwa denkst, daß das Uebermaß an Geschäften daran Schuld gewesen, daß ich bisher schwieg, so irrst Du Dich. Es wäre Unrecht von mir wollte ich das behaupten. Allein es giebt wie Du Dir leicht denken kannst, nach dem Wechsel des Wohnortes so manche Einrichtungen und Kramereien abzumachen, dazu die Besuche, die dringenden Briefe nach Hause u.s.w., daß ich wirklich noch nicht die rechte Muße fand, mit Dir, alter Junge, zu plaudern. Wenn Du aber meinst, ich hätte dazu während des Berliner Aufenthalts noch viel eher Zeit gehabt, so hast Du vollständig Unrecht. Diesmal war der Besuch bei den Aeltern wirklich etwas unerquicklich vor lauter Gesellschaften in der Familie, die förmlich einander jagten; man kam so wenig zur Ruhe, daß ich in dieser Zeit nicht einmal die Zeitung regelmäßig lesen konnte – und das will viel sagen! – Oft war mirs in dieser Zeit ordentlich unbehaglich zu Muthe bei diesem Getreibe, und ich war froh als ich hier – nach dem kurzen || interimistischen Aufenthalt in einer möblirten Wohnung, schon in den ersten Tagen des Januars in meine definitive Wohnung einrücken konnte, in der ich mich seit 8 Tagen vollkommen heimisch fühle. So weit ich es bis jetzt beurtheilen kann, ist der Tausch mit Ziegenrück ein ganz glücklicher gewesen; selbst die Gegend, deren Sand und Kiefern mir anfangs sehr grell gegen die üppigen Fluren und Waldparthien Ziegenrück‘s abstachen, muß, wenn sie in ihrem Sommerschmuck ist, ihre eigenthümlichen Reize haben; ob die Geselligkeit mir grad behagen wird, kann ich weniger sagen, genug Familien, denen man Besuch macht, giebt es; wie es aber mit einem genaueren Umgang werden wird, und ob namentlich ich solchen für mich finden werde, müssen wir noch dahin gestellt sein lassen. Jedenfalls ist es uns sehr angenehm, daß wir an Aegidi’s von vorn herein einen Anhalt haben; sie nehmen sich unsrer sehr freundlich an, mein Freund aus Göttingen war bis vor 8 Tagen da; leider hatte ihn ein Fußübel so lange hier gefesselt. Sein Vater ist || in Folge eines heftigen Falles auf den Kopf (beim Glatteise in seinem Weinberge) seit 14 Tagen ordentlich krank; er befürchtete selbst, es möchte ein Gehirnleiden werden; doch scheint es sich allmählig wieder zu bessern.

– Am meisten aber fühle ich mich hinsichtlich des Arbeitspensum’s verbessert, es müßte gradezu ein wunderlicher Zufall sein, daß es grade jetzt in dieser ersten Zeit auffallenda wenig zu thun giebt. Ist das nicht der Fall, so habe ich in der That gegen Ziegenrück ein mäßiges Pensum und kann gegen früher ordentlich aufathmen. Ich habe trotz den mancherlei Abhaltungen und den Mehrarbeiten, die die Orientirung in einem noch unbekannten Felde mit sich bringt, doch schon mehr mit Mimmi lesen können als sonst, und hoffe, in wissenschaftlicher Thätigkeit für mein Fach und meine allgemeine Bildung hier förmlich wieder aufzuleben. – Und dabei diese angenehme Nähe Berlins, und Stettins, von denen ich ersteres in 4 Stunden erreichen kann. Ich habe mir auch vorgenommen, die schöne Gelegenheit öfter zu benutzen und denke zunächst || übermorgen den Anfang zu machen. Am 25st ist nämlich Richters Geburtstag u. am 27st wird Mozart’s Geburtstag durch Mittags Konzert u. Abends durch Aufführung des Figaro in Berlinb gefeiert, sodaß ich wohl einen dieser Kunstgenüsse außer dem Besuch bei Richter und den Aeltern haben werde. Montag geht es dann wieder zurück. In der ersten Hälfte des Februar werde ich auf 10–14 Tage nach Wriezen zum Schwurgericht reisen, und also auch die dortigen Kollegen kennen lernen. Es sollen ganz nette Leute unter ihnen sich befinden.

Du, liebster Bruder, sitzt gewiß recht dick drin in Deiner klinischen Praxis und in medizinischen Arbeiten, es müßte Dich denn das Karnevalsleben, wie vor 2 Jahren, etwas herausreißen, was Dir gewiß recht gut wäre. Den Abstich der jetzigen Beschäftigung gegen das herrliche Reiseleben, kann ich Dir lebhaft nachfühlen. Ich c machte diesen Gegensatz in ähnlicher Weise, wenn auch nur auf einige Wochen, – nach der ersten Schweizerreise durch. Deine Reisebeschreibung interessirt mich sehr, namentlich diejenigen Parthien, die ich selbst gesehen habe. Wie schade, daß ich mit Vater damals nicht das Wormser Joch passirt habe. Für die Venetianischen Bilder sage ich Dir den schönsten Dank. Ich habe mich noch dieser Tage längere Zeit an ihrem Anblick erfreut und in die alte Reisezeit zurückgeträumt. ||

Die chemischen Bilder von Johnston denke ich nächstens mit Mimmi zu lesend anzufangen. Sie und die Jungen sind munter. Hermann hat in der letzten Zeit recht an Mittheilsamkeit zugenommen und bewährt die bei Karl gemachte Erfahrung, daß die Kinder nach zurückgelegten ersten 6 Monaten in geistiger Beziehunge sich rascher entwickeln. Karl ist viel kräterig und ungezogen, dazwischenf aber auch wieder sehr possirlich und amüsant – Schrader ist auch versetzt, nach Sangerhausen. – An meine Stelleg kommt ein Assessor Krakow jetzt in Insterburg; mit dem ich während der Mobilmachung und in Erfurt zusammen war.

a eingef.: auffallend; b eingef.: in Berlin; c gestr.: ha; d Text weiter auf dem linken Rand: Die chemischen … zu lesen; e Text weiter auf dem linken Rand von S. 3: anzufangen. Sie … geistiger Beziehung; f Text weiter auf dem linken Rand von S. 2: sich rascher … ungezogen, dazwischen; g irrtüml.: stellt

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.01.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34939
ID
34939