Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Freienwalde, 27. 30. Mai 1859

Freienwalde den 27. 5. 59.

Guten Morgen, mein lieber Herzensschatz! Ich schreibe heute meinen Frühspaziergang auf, wo meine Sehnsucht in diesen schönen Sommertagen in so reizender Natur immer besonders wach wird, und bin auf ein Stündchen bei Dir in dem schönen Italien, deßen Reize freilich ein Freienwalde nicht aufkommen laßen; genieße sie nur recht; ich freue mich jedes Mal, wenn Du, wie in Deinem letzten Brief von einem so schön in der herrlichen Natur zugebrachten Tag schreibst. Daß muß köstlich sein, von früh bis spät nach Herzenslust Meer, klaren Himmel, Berge und fruchtbare Ebenen mit Häusern geschmückt zu genießen und wie nett, daß ich davon bei Deiner Rückkehr auch zu genießen bekomme und die Aquarelle mir die Anschauungen, die ich von Deinen Beschreibungen gewinne, ergänze. Ich bekam Deinen lieben Brief am Dienstag und kann Dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, weiß ich Dich wieder acht Tage frisch und gesund, mit dem Wetter scheinst Du wirklich dort schlecht bestellt zu sein; bei uns waren nur die drei gestrengen Herrn vor 14 Tagen sehr schlimm, sonst haben wir mit wenigen Ausnahmen herrliches Wetter gehabt, fast zu heiß, so daß täglich beinahe ein Gewitter etwas Kühlung bringen müßte; so wünsche ich es Dir nicht in Italien; zur Arbeit ist es schlecht; es macht faul und mißmuthig, nicht den ganzen Tag draußen zuzubringen, was doch nicht geht. Früh Morgens, wo ich spätestens um 5½ Uhr auswandere, sind die schönsten Stunden, die ich bald hier, bald dort zubringe; je schöner es ist, desto mehr vermiße ich Dich. Gestern Morgen war ich auf der Königshöhe, und konnte mich gar nicht wieder losreißen von dem schönen Blick auf die grünen Buchen und dunkeln Kiefern, zu Füßen das freundliche Brunnenthal und über mir der heute tiefblaue, von leichten Zirriwolken durchzogene Himmel. Dabei lag ein Friede, eine so tiefe Ruhe über der ganzen Natur ausgebreitet (nur ein paar muntere Vögel sangen ihr Morgenlied, kein Blättchen rührte sich) daß mir unwillkührlich folgende Verse in den Sinn kamen, die ich Dir, so schlecht sie sind, schon schreiben muß. ||

Du lieber, blonder Jüngling

Denk ich an Dich zurück,

So trübet heiße Sehnsucht

Den sonst stets heitern Blick.

Uns trennt die blaue Tiefe,

Die Dich gelockt zum Süd’,

Obgleich im rauhen Norden

Dir eine Blume blüht.

Im Süden und im Norden

Gibt’s freilich der Blumen viel,

Doch Eine unter Allen

Besonders Dir gefiel.

Nenn’ mich nicht stolz und eitel,

Wenn ich mich Blume heiß’.

Denn unter Menschen und Blumen

Ich gute und schlechte weiß.

Gibt es nicht Menschen wie Rosen,

Wie Lilien, Veilchen so zart?

Auch Georginen und Sonnenblumen,

Wie Tulpen so kalt und hart?

Ich bin keine zarte Blume,

Nicht rosig und duftend zugleich.

Doch ist meine warme Seele

Für Dich an Liebe so reich.

Für Dich nur möchte sie blühen

Und welken nimmermehr;

Ihre Wurzeln möchte sie strecken

Bis über das weite Meer.

Ich weiß einen Baum im Süden

Mit mächtigem, starkem Stamm

Mit grünem Blätterschmucke. –

Wie er dorthin nur kam?

Es ist keine Olive, noch Pinie,

Keine Palme, des Südens Kind.

Ich such’, ob ich seine Heimath

Auf deutschem Boden find’.

Ja! seine frisch grüne Krone,

Sein biederer, kräftiger Kern,

Sind echtes deutsches Wesen,

Wie’s die deutsche Maid hat so gern.

Doch etwas vermiß’ am Stamm

Den, gar so einsam und kahl

In Italien nicht kann erwärmen

Der Sonne heißester Strahl.

O möchte zurück er kehren

Nach dem fernen, lieben Nord’,

Dort wird er den Epheu finden

Am alten, bekannten Ort.

Der will sich an ihn schmiegen

Mit jedem kleinsten Triebe

Und ganz mit ihm verwachsen

In reinster, innigster Liebe!

Ich kehrte erst um 7½ Uhr zu Haus zurück, fand aber die Gesellschaft, die seit vorgestern durch Helene und die beiden Kinder bedeutend gewachsen ist, noch nicht beim Frühstück; hatte also nichts versäumt, wohl aber gewonnen an neuem Muth und Frische zur weiteren Trennungszeit. Helene hatte schlecht geschlafen und sich den ganzen gestrigen Tag mit Migräne herumgequält. Nachher schmeckte der Kaffee vortrefflich. || Daß Du am 16 noch nicht den am 7 von hier abgeschickten Brief gehabt hast, ist mir leid und zugleich unbegreiflich; wüßte ich nur recht, wann eigentlich das Dampfschiff von Marseille abgeht, so würde ich mich danach mit dem Abschicken meiner Briefe richten, damit sie nicht zu alt werden; vielleicht ist auch schuld, daß ich die letzten Briefe frei gemacht habe; ich werde diesen also wieder nicht frankiren. Du machst mich ja ganz stolz, mein liebes Herz, wenn Du sagst, ich sei Dir ein mächtiger Sporn zur Arbeit, kann es aber sehr wohl begreifen; Du sehnst Dich nach Nähe bei Deinem unsteten Umhertreiben; die wird uns Beiden erst zu Theil, wenn wir ganz vereint und unsere eigene Häuslichkeit haben. Glückseliger Gedanke, den ich kaum auszudenken wage, aus Furcht, über die Gegenwart zu schelten, was ich nicht darf. Sie hat ja auch, wie Du ganz richtig einsiehst, sehr ihr Gutes; sie gibt uns Klarheit über unser schönes Verhältniß und entwickelt es nach den verschiedensten Seiten durch den beständigen Briefwechsel; sie läßt uns in den Entbehrungen der Trennung den Schatz erst würdigen und achten, den wir in unseren gegenseitigen Seelen gefunden haben, an dem allerdings den ganzen vergangenen Winter gegraben worden ist, bis er im Mai an’s Licht kam und uns anfangs ganz verblendet und verwirrt hatte. Dafür halten wir ihn aber auch fest und bewahren ihn in Wahrheit und Aufrichtigkeit. O, Erni, ich kann Dir kaum sagen, wie ich Dich liebe und wie in diesem Gefühl, sich Alles Gute, Schöne, Wahre und Edle in mir zusammendrängt, Dich damit zu überschütten und Gleiches von Dir zu empfangen. Ich fühle mich beschämt, wenn ich bedenke, was Du Alles für mich, für unsere Zukunft bei eifriger, mühevoller Arbeit thun kannst und thust, wogegen ich nur empfange und hinnehme, freilich mit dankbarem Herzen und mit dem Bewußtsein, nicht ohne Einfluß auf Dich und Deine Entwickelung zu sein, allein direkt bin ich unthätig dabei und zu geistiger Arbeit unfähig. ||

Den 30. Der 30 ist herangekommen, mein lieber, lieber Erni, wo ich den Brief schon unterwegs wißen wollte, und nun habe ich Dir noch so viel vorzuplaudern, daß er erst morgen seine Reise antreten wird. Sonntag Morgen brachte ich selbst den letzten Brief auf die Post, nachdem ich auf dem Ruinenberg und Umgegend umhergeschwärmt hatte. Karl verließ uns schon um 9 Uhr, um eine größere Gesellschaft aus Wrietzen hier umherzuführen. Den Nachmittag und Abend brachten wir auch mit derselben zu; den Nachmittag, wo es sehr kalt und häßlich war, anfangs im Saale im Bellevue, wo wir einem Konzert der hiesigen Stadtmusikanten zuhörten, deren einzelne Instrumente leider der nöthigen Harmonie entbehrten. Dabei machte ich die Bemerkung, daß der kleine Hermann entschieden Sinn für Musik hat, denn er vergaß über dieselbe nicht allein die übrigen Kinder, sondern selbst seinen Kuchen, was einem Kinde selten paßirt. Später machten wir noch einen Spaziergang über den Monte Caprino in den Schloßgarten und in diesem umher, von wo aus Hermine u. ich nach Haus gingen, erstere, um Heinrich zu befriedigen, ich, um die anderen Kinder zu versorgen. Vor der Post bemerkte ich unter vielen Menschen Profeßor Virchow stehen und sah ihn nachher auch vorbeifahren. Um 7 Uhr gingen wir Beide wieder nach Bellevue heraus, wo wir noch bis 9 Uhr in der Gesellschaft zubrachten, in der mehrere ganz nette Menschen waren, wie Wentzels, ein Staatsanwalt Stegemann und Ernsts aus Wrietzen. Die Übrigen sagten mir weniger zu. Montag früh war es sehr rauh und kalt, daß ich meinen Spaziergang aufstecken mußte und statt deßen fleißig arbeitete. Gegen Abend gingen wir noch etwas spazieren; schön war es aber auch nicht. Dienstag Morgen wanderte ich in den hübschen Baumpartien in der Nähe des Brunnens umher und erquickte mich an dem letzten Briefe dabei; war also mehr in Capri, als in Freienwalde, deßen reizende Schilderungen nach Deinem Briefe wirklich von Dichtern und Schriftstellern nicht übertrieben worden zu sein scheinen, die wilde Insel mit ihrer üppigen Vegetation muß ein || wahres kleines Paradies sein, geeignet für ein junges Profeßorpäärchen, das hier gewiß in glückseligstem Selbstvergeßen leben würde. Doch ich will gar nicht davon schwärmen – und es der Zukunft überlaßen. Gegen Mittag bekam ich einen neuen Brief, wonach Du Dich schon etwas behaglicher und befriedigter in Rücksicht auf Deine Forschungen fühlst; der Erfolg wird nicht ausbleiben, mein lieber Schatz, Deine Aenni weiß es. Nachmittag, nachdem ich Karl’s und meinen Brief vorgelesen, expedirte ich diese nebst dem an Martens nach Berlin. Da Hermine Schneiderei hatte, war ich bis spät mit Nähen beschäftigt; ergözte mich aber von 6 – 8 Uhr an einem herrlichen, großartigen Gewitter. Die Blitzte [!] zuckten an dem schwarzen, unheimlichen Himmel umher, und der Donner rollte brausend und tosend immer näher; ich habe dies von Kind auf an so gern gehört und Gottes Stärke in der großartigen Natur tief verehrt. Die drückend heiße, schwüle Luft wurde durch Ströme von Regen abgekühlt und ich hatte mich in meiner Freude auf den nächsten Morgen nicht getäuscht. Da die Sonne den finsteren Elementen weichen mußte, und Arbeit nicht möglich war, ging ich im Zimmer auf und ab und recitirte mir alle möglichen Gedichte, die meiner augenblicklichen Stimmung paßten. Mittwoch Morgen schluckte ich in vollen Zügen die herrliche, milde Sommerluft, die der Regen gebracht hatte ein und hätte jedem glänzenden Tröpfchen an Gräsern und Bäumen einen Kuß aufdrücken mögen, gerade so strahlend freundlich lachten sie mich an, wie ich oft Dein liebes Gesicht auf mir habe ruhen fühlen; ich trug den feuchten Winden 1000 Grüße an Dich auf, die freilich spät zu Dir kommen werden. Karl führte mich auf den Kahlenberg, von wo der Blick in’s Bruch sehr trübe, desto duftiger nach der andern Seite in die schönen Baumpartien war; dann ging es quer durch den Wald ohne Weg und Lichtung, wo sehr hohe, natürliche naße Gräser mich gänzlich durchnäßten; das war aber bald vergeßen über die würzige Luft, die niedlichen Durchblicke und meine heitere Stimmung in der || lieben Natur; die mich aus allen Winkeln mit Ernst’schen Augen ansah. Um 11 Uhr ging ich mit den Kindern und meiner Arbeit in den Schloßgarten, wo ich bis Mittag unter den schönen Bäumen trotz kannibalischer Hitze blieb. Ich weiß nicht, im Zimmer fehlst Du mir lange nicht so, wie draußen im Freien und trotz dieser Entbehrungen, bin ich dort am liebsten; da bin ich frei, ungebunden und kann meinen flüchtigen Gedanken ungestört eine südliche Richtung geben. Nachmittag um 4 Uhr kamen Jacobis mit der Post an; wir empfingen Sie mit sämmtlichen Kindern dort; August fuhr gleich weiter nach Wrietzen, wo er das Schwurgericht abhalten mußte; wir gingen mit Helene und den Kindern zu Haus, tranken dort gemüthlich Kaffee und machten gegen Abend noch einen hübschen Spaziergang nach dem Fährkrug zu. Die klare, reine Beleuchtung versprach wieder einen neuen schönen Tag. Karl las uns nach Tisch eine Broschüre von Louis Aegidi vor über die Stellung Preußens und Deutschlands zum Kriege, die brennende Tagesfrage, die immer noch nicht erledigt ist, zu Deinem Vortheile. Die Schrift war sehr klar und kräftig geschrieben. Aegidi bleibt bis zur Annahme seiner Profeßur in Hamburg in Berlin und findet in der Abteilung des Ministerpräsidenten reichliche Beschäftigung. Wie Neapel sich nun zum Kriege stellen wird, nachdem der König endlich als Opfer der schrecklichen Krankheit gefallen ist, bin ich sehr gespannt; die Zeitungen sagen in den letzten Tagen, daß von Rußland und England eifrigst in Neapel operirt werde, den Fürsten zum Beitritt des Bündnißes zwischen Sardinien und Frankreich beizutreten; dann wärst Du mitten in den Wirren des Krieges, hoffe aber immer noch ohne bei der Arbeit etwas zu versäumen oder vielleicht gänzlich darin unterbrochen zu werden. Sollte es in Neapel gar nicht mehr gehen, wirst Du auf Capri gewiß Ruhe und Material finden, wenn Du den Reizen und Lockungen der herrlichen Natur widerstehen und in’s Mikoroskop [!] sehen kannst. || Donnerstag früh brachte ich ein köstliches ½ Stündchen auf der Königshöhe zu, wovon ich Dir schon Anfang des Briefes erzählt habe. Helene war an diesem, wie an den folgenden Tagen recht matt und hinfällig, weßhalb wir uns Nachmittag nach dem Kaffee ruhig in den kleinen Garten setzten und gegen Abend beim Rollen des Donners zwei schöne Stunden im Schloßgarten unter blühenden Kastanienbäumen, aus deren Blättern ich den Kindern die verschiedensten Sachen fabriziren mußte [verbrachten]. Erst spät wanderten wir heim, expedirten die Kinder in’s Bett, aßen selbst Abendbrod und lasen die genannte Broschüre zu Ende. Freitag Morgen brachte ich im Garten zu; Nachmittag machten wir mit sämmtlichen Kindern, Heinrich im Wagen, nicht zu vergeßen, eine weitere Tour bis zum Alaunwerk. Hin gingen wir den hübschen Weg durch’s Hammerthal, wo uns stellenweis freilich die heiße Sonne sehr incommodirte; desto schöner war es nachher von der Teufelsbrücke an durch den Wald bis zum Kaffeehaus, wo wir mit mehreren Familien zusammen Kaffee tranken und die Kinder sich austoben ließen. Um 7 Uhr, gerade wie es schön wurde, brachen wir auf und krochen sehr langsamen Schrittes zu Haus, was mich mehr ermüdete als Tages darauf eine 2½ stündige Tour. Der großen Müdigkeit hatte ich es denn auch zu danken, daß ich sehr spät aufwachte, um 6 Uhr erst aufstand und die Frühpromenade aufsteckte. Das war ein schlechter Anfang des Tages, der aber desto herrlicher beschloßen werden sollte. Der Vormittag verging mit Plätten, Speisekochen u. sonstigen Vorbereitungen zum gestrigen Diner. Nachmittag tranken Hermine, Helene und ich bei der Frau Ziethen im Garten Kaffee, plauderten alte Münstersche Zeiten durch. Ich, wie Du weißt, keine Freundin von Kathens, verabschiedete mich um 6½ Uhr und wanderte noch mit Karl bis 9¼ Uhr herum, wo, wirst Du nicht ahnen; aber meine Gefühle Dir erklären können, wenn ich Dir sage, es ging nach dem Püttgrund. || Anfänglich bis in den Püttgrund selbst gingen wir ebenso, wie Du mich im vergangenen Jahre führtest; bei der dunkeln Tannenpartie fehlte nur die Beleuchtung; damals a strahlten unsere Gesichter mit der Sonne um die Wette zwischen den dunkeln Bäumen hindurch; von dort gingen wir statt den steilen Berg hinauf, nach der entgegengesetzten Seite am Rande des kleinen Tannengehölzes entlang und traten dann in den köstlichsten alten Buchwald ein, unter deßen grünem Dache ich gar gern die Nacht zugebracht hätte. Starke, schlanke, kräftige Buchenstämme wechselten weiterhin mit knorrigen Eichen ab. Dann kamen wir in eine junge nicht minder reizende Eichenschonung, wo sich sehr viele Rehe aufhielten; bald stand eins mit seinen großen, klugen Augen nachdenklich da, bald sprang eins scheu und munter in’s Dickicht hinein, die rohen Menschen fliehend. Weiter ging es über eine abgeholzte Anhöhe nach einer tiefen Schlucht hinunter, ähnlich dem engen Hohlweg, den wir damals auf dem Rückweg auch paßirten, wobei Du Deine kleine Last gewiß noch in Gedanken fühlst. Auf dem Brunnenweg gelangten wir dann wieder zu Haus an; für die 2½ Stunden waren wir sehr weit durch die vielen Kreuz- und Querwege gewesen; Du kannst denken, wie rasch und eilig unser Schritt da gewesen ist. Das war eine Tour nach meinem Geschmack, wie ich sie in Zukunft noch oft mit meinem lieben Erni zu machen gedenke. Auf solchen Spaziergängen beschäftigen Karl und ich uns viel mit der Zukunft; wo wir wohl einmal leben könnten; hübsche Gegend wünsche ich vor allen Dingen, sollte ich sie auch mit etwas größerer Entfernung von allen Lieben als angenehm ist, erkauft werden. Helene hatten heftige Kopfschmerzen zu Bett getrieben. Wir Drei ließen uns gebratene Leber und Kartoffeln vortrefflich munden, worauf Karl uns noch einen recht hübschen Nekrolog von Onkel Bleek, von einem seiner früheren Schüler verfaßt, vorlas. Befriedigt schlief ich ein. ||

Sonntag Morgen saß ich 1½ Stunden mit einer eiligen Arbeit von Hermine im Garten und erfreute mich am Geläut der Glocken, die mich aber nicht zur Kirche riefen; ich wollte unterdeß mit Dir plaudern, kam aber vor lauter Unruhe und häuslichen Besorgungen nicht dazu. Schon 8½ Uhr kam der Präsident Strampff und Rath Greiner zur Revision her, um 12 Uhr August mit noch drei Herrn: Kreisrichter Wenzel, Ernst und Staatsanwalt Stegemann aus Wrietzen, die alle nebst Herrn Grieben bei uns aßen. Strampff war sehr liebenswürdig, gratulirte mir und fragte mich sehr nach Dir aus. Dabei erzählte er mir immer mit einer unendlichen Kunde über den Tisch herüber (ich hatte Stegemann und Greiner zu Nachbarn) von Neapel und Capri, wo er im vergangenen Jahr 4 Wochen theilweis mit Ehrenberg zusammen zugebracht hat. Er konnte nicht genug von Capri’s blühenden Myrthenwäldern, dem blauen Meer und dem Vesuv, den er aber nicht bis zur höchsten Spitze erstiegen hat, erzählen und machte mich immer sehnsüchtiger nach Dir und dem schönen Süden. Staatsanwalt Stegemann ist ein scharfer, kluger und zugleich humoristischer Mann, der mich ganz gut erhielt. Die Ohren müßen Dir an dem Mittag geklungen haben, so viel war von Dir die Rede. Nach Tisch gingen die Herrn nach dem Brunnen heraus; Helene und Hermine ruhten aus und ich kramte Alles fort. Regen und Hagelwetter hatten, während wir bei Tisch saßen, die Luft wieder abgekühlt. Um 5 Uhr standen drei Wagen vor der Thür, mit denen wir nach der Karlsburg fuhren. Wir drei weiblichen Wesen wurden auf jeden Wagen vertheilt; Helene in einen zweisitzigen mit Herrn Strampff zusammen; Hermine in einem halbzugemachten, der sich nicht aufschlagen ließ mit Herrn Greiner und Stegemann; ich hatte das beßere Theil er[]t und saß mit den übrigen Herrn in einem ganz offenen Wagen, der im vergangenen Jahre unter uns zusammenbrach; aus dem ich vortrefflich mich rings umsehen konnte; Bäume, Wiesen und Höhen waren duftig, frisch und klar nach dem Regen, so daß es eine rechte Lustpartie war. Am Fuße der Karlsburg stiegen wir aus und kletterten dieselbe steil aber schnell hinauf; genoßen oben eine sehr schöne Aussicht auf Freienwalde und die anderen Ortschaften im Oderbruch und machten dann noch einen weiten Spaziergang durch den Park des Herrn v. Jena in Koethen, wo ich an dem kleinen munteren Waßer, das zwischen Erlen und Buchen dahinfließt, lebhafte Rückerinnerungen feierte. Die herrliche, frische, durchsichtige Luft war recht geeignet um noch lange zu wandern, allein die älteren Herrschaften mußten diesen jugendlichen Drang nicht fühlen; wir kehrten gegen 8 Uhr nach der Karlsburg zurück und stärkten uns an Butterbrod, weichen Eiern und kaltem Fleisch, zwischendurch an einem herrlichen Sonnenuntergang hinter den Bergen, wobei ich ganz bei Dir war. Dann ließen wir Herrn Strampff und Greiner nach Neustadt abfahren; wir blieben noch ein Weilchen und fuhren dann nach Freienwalde zurück. Der Abend war so lau und schön, wie man ihn nur wünschen konnte. Heute Morgen 6½ Uhr ist Karl nach Berlin abgefahren, um heute Abend von dort zu einer Generalversammlung der Westphalia nach Dortmund zu reisen im Auftrage Deines Vaters, von wo er in acht Tagen zurückkehren wird. Mein Papier geht leider wieder zu Ende und ich schwatzte noch gern mit Dir; habe aber, glaube ich, schon viel unnützes Zeug geplaudert, das Dich vielleicht nicht einmal intereßirt. Ich schreibe, wie ich gerade denke und so siehst Du hieraus, wie nichtig meine Gedanken oft sind. Ich füge noch herzliche Grüße von Karl, Hermine, Helene u. August, sowie Herrn Strampff und Mutter, die mir dieselben im letzten Brief auftrug und einen innigen Kuß

von Deiner Aenni bei.

[Adresse]

Al | Signore Dottore Ernesto Haeckel. | p. ad. Signore Ernesto Berncastel. | Farmacia Prussiana. | Largo S. Francesco di Paola No 7. | Napoli (Italia). via Marseille

a gestr.: leuchteten

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Neapel
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34452
ID
34452