Dorsch, Hannah

Hannah Dorsch an Ernst Haeckel, Zürich IV, 14. Mai 1908

Zürich IV, d. 14. Mai 1908

Rigistr. 60

Hochverehrter, lieber Herr Professor

Erst heute ist es mir möglich, Ihnen für die freundlichen, guten Worte zu danken, die Sie mir nach dem Tode meines nun dahingegangenen väterlichen Freundes schrieben. Die letzten Wochen bargen für mich so viel des Schweren in sich, daß ich noch nicht im mindesten zur Erledigung all meiner Briefschulden aus jenen Tagen kommen konnte.

Ich habe unendlich Viel an dem Verstorbenen verloren. Gerade weil ich in einer für ihn sehr schweren Zeit ihn kennen lernte, – gerade weil mir, durch eine merkwürdige Verkettung aller || Umstände, die Aufgabe zufiel, dem unsagbar leidenden alternden Mann ein wenig durch die bittere Zeit hindurchzuhelfen, – gerade darum hatte er sich bald mit einer besonderen, geradezu rührenden, dankbaren Anhänglichkeit an mich angeschlossen. Ich weiß es, daß ich ihm ein Trost u. ein Halt in seinen letzten Jahren habe sein können; wie oft hat er mich seinen „Sonnenschein“ genannt! u. wie vermißte er mich, wenn ich mal auf Stunden ihna verließ! Seit fast 3 Jahren waren wir eigentlich ohne Unterlaß beisammen, & fortwährend im innigsten Gedankenaustausch. – Gerade, weil ich ihn gut kannte, weil ich nicht im mindesten blind war für seine Fehler & für seine sehr schwierigen Seiten, gerade darum ist es mir möglich gewesen, ihm zu helfen & oft das Rechte zu raten. Ich wußte genau, was ich auf mich nahm, als ich || in jener schweren Zeit bei dem armen Manne blieb; ich wußte, daß ich mich bei der Menge dem bösesten Gerede & bei vielen nicht einmal Übelwollenden der Verkennung & Verurteilung aussetzte. Wenn aber wir, die wir frei sein wollen, nicht einmal über dem Gerede der Menge stehen können, – von wem sollte man es dann noch erwarten?! Und sollten wir nicht sogar einmal unsern „guten Ruf“ aufs Spiel zu setzen wagen, wenn es gilt, als Mensch dem Menschen gegenüber eine Pflicht zu erfüllen! – Ich bin froh, daß ich’s damals gekonnt habe; u. ich habe nicht Schaden gelitten dadurch; im Gegenteil, ich bin dadurch sittlich gefördert worden.

Im Juni wird eine kleine Arbeit über den Verstorbenen erscheinen, die ich ihm als Nachruf geschrieben habe; ich werde mir erlauben, Ihnen || ein Exemplar davon zuzusenden. Behalten Sie den nun Dahingegangenen in freundlichem Andenken, lieber Herr Professor, – auch als Mensch. Es ist ja & ja viel Böses über ihn geredet worden, was nicht immer berechtigt war.

Nach seiner mündl. & schriftl. Willensäußerung ist sein gesamter schriftl. Nachlaß zur alleinigen Verfügung, Verwertung, Publikation & Nutznießung auf mich übergegangen. Es ist mir eine Freude – wenngleich noch mit Wehmut gemischt, – daß ich diese Sachen nun erledigen darf. Es wird da Manches zu thun geben, und schon habe ich damit begonnen; in seinen Mappen liegen noch viele Schätze, die verdienen, gehoben und verwertet zu werden. Da der liebe Verstorbene stets Alles mit mir || besprach & mich über seine Pläne immer orientierte, so darf ich hoffen, daß es mir gelingen wird, den Nachlaß in seinem Sinne zu ordnen u. an die Öffentlichkeit zu bringen.

Im Laufe dieses Jahres wird es, wie ich bestimmt hoffe, noch gelingen, die Volksausgabe seiner großen Deubler-Biographie auf den Markt zu bringen. Es war dies ein Lieblingswunsch von ihm, der ihn noch in seines Lebens letzten Tagen intensiv beschäftigte. Er hatte schon geäußert, daß er das erste ihm zukommende fertige Exemplar dieser Volksausgabe dem Phyletischen Museum überweisen wolle. ||

Ich bleibe zunächst auf Monate hinaus, mit Bestimmtheit hier in der Villa Erica. Bevor ich den Nachlaß gründlich durchgesehen & wenigstens im allgemeinen über seine Verwertung meine Dispositionen getroffen habe, kann ich an weitere Zukunft gar nicht denken.

Und wie geht es Ihnen, mein lieber, verehrter Herr Professor? Führt Ihr Weg Sie nicht im Laufe dieses Sommers nach dem Süden? Wie glücklich wäre ich, wenn ich Sie hier in unserm blumenübersponnenen Häuschen einmal begrüßen dürfte!

Haben Sie nochmals Dank für Ihre lieben Worte, & seien Sie hochachtungsvoll gegrüßt von

Ihrer ergebenen

Hannah Dorsch

a eingef.: ihn

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.05.1908
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 3420
ID
3420