Jena 13. Juni 1916.
Mein lieber alter Freund!
Wie ich zufällig erfahre, feierst Du übermorgen Deine Goldene Hochzeit; da will ich nicht unterlassen, Dir und Deiner lieben Frau meine herzlichsten Glückwünsche zu senden. Leider wird ja die Festfreude Eurer Familie durch den vor 3 Wochen erfolgten Verlust Deines lieben Schwiegersohnes Dr. Paul Schulz sehr getrübt sein. Aber anderseits werdet Ihr doch im Genusse Eures reichen Familien-Glückes und in Erinnerung an die zahlreichen schönen Erlebnisse Eurer glücklichen Ehe dankbar auf das verflossene halbe Jahrhundert zurückblicken. Du selbst wirst nicht nur auf die reichen Erfolge Deiner ärztlichen Berufstätigkeit, sondern ganz besonders auch auf die genußreiche Frucht Deiner botanischen Lieblingsbeschäftigkeit – als bedeutendster „Rubus-Forscher“ u. s. w. – dankbar hinschauen. ||
Wenn ich an die glückliche Zeit unserer Jugend vor 50-60 Jahren zurückdenke – und besonders an unsere gemeinsamen schönen Studien-Jahre in Würzburg, Berlin und Wien, so will es mir gerade jetzt, wo der entsetzliche Weltkrieg Alles zerstört und auf den Kopf stellt, scheinen, daß wir für das große Glück der ereignißreichen und höchst fruchtbaren von uns durchlebten Friedenszeit ganz besonders danken müssen. Der Blick in die Zukunft der kommenden Jahre will mir – wie vielen älteren und erfahrenen Kollegen! – sehr trübe und nebelhaft erscheinen! Wann, Wie und Wo soll der ersehnte Friede geschlossen werden? Wie sollen die ungeheuren materiellen und ideelen Verluste des Massenmordes ersetzt oder vergütet werden? Und Wie wird die neue Generation unserer Kinder und Enkel aussehen, die auf ganz anderen Grundlagen sich entwickeln müssen? ||
Auch ich habe unter den zahllosen Opfern welche der beispiellose Weltkrieg fordert, den Verlust vieler hoffnungsvoller junger Männer zu beklagen, Freunde und Verwandte, Schüler und Kollegen. Von 12 Neffen und Großneffen die im Felde stehen, sind bereits 7 gefallen, 2 schwer verwundet. Unsere zahlreichen Lazarette in Jena sind voll von Verwundeten, dabei Mangel an Ärzten. Die zunehmende Teuerung aller Lebensmittel macht sich in unserer Stadt immer mehr fühlbar. Es ist gut, daß meine zarte Frau, die unter diesen Verhältnissen besonders schwer litt, nun schon 1 ¼ Jahre den Frieden gefunden hat. Ich lebe sehr still und zurückgezogen, mit meiner ältesten Enkelin Else Meyer (21 Jahr alt); sie besorgt meinen kleinen Haushalt gut, hat lebhafte biologische Interessen und ist mir eine sehr angenehme Gesellschafterin.
Mit der Gesundheit kann ich leidlich zufrieden sein.
Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen
treulichst Dein alter
Ernst Haeckel.