Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 12. Januar 1918

Jena 12.1.1918.

Lieber Freund!

Aus Ihrem letzten Briefe erfahre ich mit herzlichem Bedauern, daß Ihr lieber Sohn immer noch in französischer Gefangenschaft schmachtet; hoffentlich wird er bald frei werden. Augenblicklich läßt ja der bevorstehende Separatfrieden mit Rußland hoffen, daß der entsetzliche Weltkrieg seinem Ende entgegen geht.

Mit der „Vaterlands-Partei“, die auch ich, wie sie, nach Kräften fördern, haben wir hier ebenfalls viel Ärger. Die internationale Sozial-Demokratie (–, hier durch Abbe-Zeiss stark vertreten –) benutzt das Wort „Partei“, das besser durch „Bund“ ersetzt würde (– da doch der „Bund“ über den „Parteien“ stehen soll! –), um die ganze deutsch-nationale Bewegung als konservativ-reaktionär zu verdächtigen; – unser miserabler „Reichstag“ (vom 19. Juli!!) – ||

Daß Ihr früherer College Hertling (der ultramontane Gründer der „Görres-Gesellschaft“) am 31. Oktober, – zur 400 Jahrfeier der „Reformation“!! – vom Kaiser zum Deutschen Reichskanzler ernannt wurde, gehört auch zu den vielen „Treppenwitzen“, welche sich die „Weltgeschichte“ seit 4 Jahren erlaubt! (Luther und Bismarck haben sich in ihrem Grabe – hier im Schwarzen „Baeren“! – umgedreht!

– Ihrer lieben Frau Schwiegermutter gratuliere ich zu dem Erfolge ihrer unermüdlichen Schriftsteller-Tätigkeit; ich habe das angekündigte Buch (Titel?) noch nicht erhalten.

Bei Abfassung der „Kristallseelen“ (die mich das ganze vorige Jahr gekostet hat) habe ich Viel an Sie gedacht und an unsere gemeinsame „Radiotik“. || In dem Kapitel III, in dem besonders die Acantharien ein wichtige Rolle spielen, hatte ich die mächtigen Fortschritte, welche die Radiolarien-Kenntnis durch Ihre wichtigen Entdeckungen gemacht hat, noch besonders hervorgehoben. Dieser Abschnitt ist aber nebst anderen (etwa ¼ des Manuskriptes!) nicht zum Druck gelangt – wegen Mangels an Druckpapier! Daher fehlt auch leider das Register.

Ich bedaure sehr, daß ich Sie so lange nicht gesehen; ich hätte so gern vieles Persönliche und Sachliche mit Ihnen besprochen; namentlich die neueren Wandlungen der „Entwickelungslehre“! Die merkwürdige „Psychologische Metamorphose“ Ihres Bruders Oskar, der jetzt von den Feinden des Darwinismus als „Vernichter“ gepriesen wird, gehört zu meinen traurigsten Erfahrungen! ||

Mit meiner Gesundheit geht es seit ½ Jahr stetig abwärts. Das alte Herz will nicht mehr arbeiten und Cirkulations-Störungen werden immer bedenklicher. Ich den Sommer schwerlich überleben. Auch habe ich keine Freude mehr am Leben, da ich nicht mehr arbeiten kann. Die Zukunft der europäischen Kultur-Menschheit, die sich gegenseitig zerfleischt, sehe ich äußerst pessimistisch an! –

Mit herzlichen Grüssen an Sie und Ihre liebe Familie

treulichst Ihr alter

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.01.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33217
ID
33217