Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 14. September 1918

Jena 14.9.18.

Lieber Freund!

Die Nachricht von dem plötzlichen Tode Ihrer lieben, von mir sehr verehrten Schwiegermutter hat mein aufrichtiges Bedauern erweckt. Ich hatte das schöne Buch: Erinnerungen einer 70jährigen“ mit lebhaftem Interesse gelesen; um so mehr als ich den größten Teil der berühmten darin auftretenden Personen persönlich gekannt und verehrt habe. –

Andererseits freut mich um so mehr, daß Ihr lieber Sohn Otto glücklich aus der grausamen französischen Gefangenschaft erlöst und in der Schweiz interniert ist – ja sogar hohe Bergtouren machen kann. Das bittere Schicksal, durch den entsetzlichen Weltkrieg mitten aus dem Studium herausgerissen zu werden, hat ja leider viele Tausende betroffen – Sie werden sehr froh sein, den talentvollen Sohn glücklich und gesund wieder zu haben. ||

Mit meiner Gesundheit geht es seit 8 Monaten beständig abwärts, besonders seit März dieses Jahres. Das morsche alte Herz will nicht mehr arbeiten (Arteriosklerose) – und ebenso auch das müde Gehirn. Ich bin froh, mit den „Kristallseelen“ vor einem Jahr einen guten Abschluß meiner 60jährigen Bemühungen gemacht zua haben. Im Mittelpunkt meines Interesses stehen noch immer unsere geliebten Radiolarien, die durch Ihre schönen Arbeiten die wichtigste Förderung erhalten haben! Im neuen „Genetischen Museum“ wird ihnen ein besonderes Zimmer eingeräumt, in dem neben vielen Bildern und Modellen auch Porträts der führenden Radiotiker (– voran Johannes Müller und Sie!) das Interesse des Publikums für diese wunderbaren „Biokristalle“ wecken sollen. Bölsche und Ingenieur Grimsehl (60 Jahre, besonders geschickter Radiolarien Praeparator, in Berlin) werden dafür schöne Beiträge liefern – vielleicht Sie auch? (Vergrößerte Original Zeichungen?) – ||

Ein anderes Zimmer in der verwandelten „Villa Medusa“ soll den geliebten Medusen eingeräumt werden, ebenfalls mit vielen Bildern und Modellen. Da auch Ihr persönliches Interesse, ebenso wie das meinige, so viele Jahre diesen wundervollen „Blumentieren“ zugewandt war, würde es eine schöne dauernde Erinnerung an unsere gemeinsamen Studien in Jena sein, wenn auch Sie einen Teil Ihrer Original-Zeichnungen und Präparate diesem Medusen-Kabinett widmeten! –

– Mein Sohn Walter kommt morgen her und bleibt 2 Monate hier, um meinen Nachlaß zu ordnen, auch die reiche Kunstsammlung (Bilder, Büsten, Ehrengeschenke etc). Er übernimmt die Rolle eines Kustos des neuen Museums, dessen Direktor Dr. Heinrich Schmidt wird (jetzt 44 Jahre alt – besoldet aus der akademischen Ernst Haeckel Stiftung (pro Jahr 3000 Mk). Sein neues Buch: „Geschichte der Entwicklungslehre“ (Kröner) empfehle ich Ihnen besonders! ||

Die politische und wissenschaftliche Zukunft betrachte ich äußerst pessimistisch! Ich bin froh in der Überzeugung, daß in wenigen Monaten (– oder Wochen?) ein sanfter Tod mich „von allem Übel erlösen“ wird.

Unsere Kinder und Enkel werden kein so sonniges „Goldenes Zeitalter“ genießen, wie wir es (– dank Bismarck und Darwin! –) seit 50 Jahren erlebt haben!

Ihnen persönlich herzlichen Dank nochmals für alle Liebe und Treue, die Sie mir seit 50 Jahren bewahrt haben, sowohl in persönlicher als in wissenschaftlicher Beziehung! (Welcher Gegensatz zu Ihrem Bruder Oskar, dessen bedauerliche „Psychologische Metamorphose“ – à la Virchow! 1877) nur durch Verlust allen philosophischen Überblicks und Mangel an historischem (phyletischen) Verständnis erklärbar ist!!).

– Mit besten Grüßen an Sie und Ihre liebe Familie

Ihr alter, treu ergebener Ernst Haeckel.

a eingef.: zu

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.09.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33216
ID
33216