Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Arnold Lang, Jena, 10. November 1896

Jena 10.11.1896.

Lieber Freund und Ritter-Professor!

Beifolgend sende ich Ihnen meine letzten Arbeiten, den II. Theil der System. Phylogenie (Wirbellose) und die „ Amphorideen und Cystoideen“ – letztere das Ergebniß der 3 stillen Monate (Juli, Aug., Septb.), die ich 1895 mit gebrochenem Bein auf meinem Schmerzenslager zubrachte. Sie werden aus beiden Arbeiten ersehen, wie sich unsere beiderlei Rollen umgekehrt haben, und wie Viel ich als alter Schulmeister von Ihnen, als einem meiner letzten, liebsten und tüchtigsten Schüler – besonders aus Ihrem trefflichen Lehrbuch d. vergl. An. –gelernt habe! Eigentlich steckt in den 3 Bänden dieses Werkes, dessen Ursprünge 32 Jahre zurückreichen, eine colossale Arbeit, und gar viele schlaflose Nächte! Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mit einem Theil meiner classific. Reform-Versuche einverstanden wären, besonders in Betreff der „Vermalien u. Articulaten“. Ich verspreche mir indessen von der Arbeit unter den Fachgenossen sehr wenig Theilnahme, schon wegen Mangels der Abbildungen u. der Litteratur-Angaben. Übrigens dürfte es meine letzte größere Arbeit sein; ich habe während der letzten Jahre schmerzlich empfunden, wie sehr meine Arbeitskraft u. m. Gedächtniß abnimmt! Von uns hier kann ich Ihnen leider wenig Erfreuliches erzählen. Meine arme Frau ist nun schon über ein Jahr krank und hat über 10 Monate im Zimmer zugebracht. Ein Herzleiden, mit großen Schwächezuständen, Neurasthenie etc, entwickelt sich zunehmend, ebenso wie leider auch der melancholische Gemüths-Zustand unsrer Tochter Emma. Unser Haus ist vereinsamt, und wenn ich nicht 6–8mal im Semester in unserem Referir-Abend unsere alten Freunde sähe, würde ich den geselligen Verkehr fast verlernen. Übrigens ist für Sie, als eins der fleißigsten u. anregendsten Mitglieder des Ref. Ab. – ebenso wie der „Schweizer-Höhe“ – leider kein Nachfolger gefunden. Letztere hat leider einen „Großen“ u. protzenhaften Character angenommen! –Frau Kükenthal ist leider auch krank (tuberc. der Lungen?) u. von ihrem || Mann nach Montreux gebracht worden; er wollte Sie in diesen Tagen besuchen, fand aber keine Zeit dazu. – Mir selbst geht es leidlich; ich habe in dem regnerischen August einige Erholungs-Wochen in München u. Nord-Tyrol zugebracht; ich kann leidlich wieder gehen, wenn auch nicht wie früher! Unsere reizende Tour auf den „Großen Mythen“, im Aug. 94, wird wohl meine letzte größere Berg-Besteigung gewesen sein! – Hoffentlich geht es Ihnen und Ihrer lieben Familie recht gut!

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr treuer alter

Ernst Haeckel.

P.S. Die Beilage darf ich Sie wohl bitten an Collegen C. Keller abzugeben.

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
10.11.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
33070