Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Jena, 14 Dezember 1911

Jena 14. Dezember 1911.

Liebster Freund!

Für Deine freundliche Weihnachts-Sendung – Caviar und Cherry Brandy – herzlichsten Dank! – Als bescheidene Gegengabe sende ich Dir beifolgend einige Bilder. Das reizende, farbenvolle Bild von Hermann Kaulbach (München): „Unsterblichkeit“, gehört zu meinen Lieblings-Kunstwerken.

Auch die charaktervollen Stein-Zeichnungen von Karl Bauer (München), Goethe und Bismarck, werden hoffentlich Deinen Beifall haben. Von Goethe hat Bauer eine ganze biographische Serie gezeichnet (vom 12. bis zum 80. Jahre); ich sende Dir sie gern, wenn sie Dir gefallen; ich glaube, Du hast sie schon im Phyletischen Museum gesehen. ||

Von mir kann ich Dir wenig Erfreuliches berichten. Die Kur in Baden-Baden (vom 17.9. bis 17.10.) – täglich ein Thermal-Bad u. Schwedische Gymnastik – hat zwar das Allgemeinbefinden gebessert (Appetit und Schlaf), aber das lokale Leiden des gebrochenen Hüftgelenksa wenig geändert; Schmerzhaftigkeit und ungenügende Beweglichkeit sind noch ziemlich ebenso wie vor ½ Jahre. Ich kann nur wenige Schritte, auf 2 Stöcken, mühsam gehen. Indessen gehe ich doch täglich Mittags (zwischen 12 und 1 Uhr) etwas in das Paradies und genieße die schöne Aussicht auf Saale, Wöllnitzer Wiesen u. Kernberge. Abends gehe ich überhaupt nicht mehr aus, und lebe auch sonst ganz still. Seit 1. November habe ich wieder angefangen Aquarell zu malen, was ich den ganzen Sommer nicht konnte. ||

Schwester Röschen geht es jetzt besser; nachdem sie fast ein volles Jahr das Haus nicht verlassen konnte, geht sie jetzt wieder aus. Wir fühlen Beide jetzt recht deutlich, daß wir „Alte Leute“ geworden sind und sind zufrieden, wenn wir in unserem einsamen Stilleben uns mit Lectüre und Lebens-Erinnerungen (an denen ich jetzt schreibe) beschäftigen können. Mit dem schönen Wandern und Reisen ist’s vorbei!

– Hans Meyer ist vor 8 Tagen von seiner 6monatlichen Africa-Reise gesund und wohlbehalten nach Leipzig zurückgekehrt; sehr befriedigt von seinen geographischen u. colonialen Studien. Lisbeth mit ihren 3 Töchtern hat uns während dem oft besucht. Walter und Familie geht es gut; er hat mich während der 4 Wochen in Baden-Baden treulich gepflegt und besorgt. ||

Tante Ida nebst Eurer Tochter Therese wünsche ich zu ihrer Reise nach Assouan alles Gute! Warum gehen sie aber nicht lieber einmal nach dem herrlichen Ceylon?

Heute las ich mit Erstaunen, daß Eurer englischer König Georg V. sich in Delhi feierlichst zum „Kaiser von Indien“ gekrönt und zugleich die indische Hauptsatdt von Calcutta nach Delhi verlegt hat! Grossartig!!

Überhaupt scheint die alte Welt aus den Fugen zu gehen und eine neue sich aus dem Chaos zu entwickeln! China, Persien, Tripolis, Marocco etc. etc.??

Mit den herzlichsten Glückwünschen für Dich und die Deinen zum neuen Jahr (– in dem wir uns hoffentlich noch einmal wiedersehen werden! –)

Treulichst Dein alter

Ernst Haeckel.

a korr. aus: Hüftsgelenks

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
14.12.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 32928
ID
32928