Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Jena, 2. August 1911

Jena 2. August 1911.

Liebster Freund!

Gestern erhielt ich aus London die letzte Büchse mit der vortrefflichen „Invalid Turtle Soup“, welche Du so gütig warst, mir allwöchentlich senden zu lassen. Sie hat zu meiner Stärkung und Wiederherstellung wesentlich beigetragen. Da nun das Allgemeinbefinden ziemlich das alte ist, bitte ich Dich sehr, keine weitere Sendung mehr in London zu bestellen (die letzte ist am 25. Juli von dort abgegangen). Ich habe heute an die „Ship and Turtle Tavern“ (Leadenhall Str. 129, London E.C.) geschrieben, keine Büchse mehr zu senden, da ich eine Badereise von mehreren Monaten antrete. ||

Die Besserung der Schenkelhals-Fraktur geht leider langsam vorwärts. Noch jetzt, 15 Wochen nach dem verhängnisvollen Unfall, kann ich nur wenige Schritte mit Hülfe von 2 Stöcken gehen. Nach Rat der Ärzte soll ich den ganzen August noch hier bleiben und versuchen, im September eine Kurz in Baden-Baden oder Wiesbaden (mit schwedischer Gymnastik) zu unternehmen. Also: Geduld!

Den Monisten-Kongress in Hamburg (8. – 11. September) habe ich zu meinem schmerzlichen Bedauern aufgeben müssen. Er verspricht, sehr großartig zu werden, besonders durch Teilnahme des Auslandes (America, England). ||

Meine dreimonatliche Gefängnishaft ist mir durch herzliche Teilnahme weiter Kreise und Besuche vieler „Welträtsel“-Leser in angenehmer Weise erleichtert worden. Ich liege Nachmittags mehrere Stunden auf Deinem herrlichen Frankfurter Rohrstuhl (– einer meiner wertvollsten Möbel! –) auf dem Balkon und erfreue mich der schönen Fernsicht auf die Kernberge. Die Entbehrung der gewohnten Spaziergänge ist mir in den letzten drei Wochen durch die entsetzliche Hundstagshitze erleichtert worden, die hier, wie im größten Teile von Mittel-Europa herrscht. Der Regenmangel (bei 30–40° C.!) hat eine traurige Dürre verursacht, so daß die Feld- und Garten-Früchte verderben und das Vieh kein Futter hat. ||

Schwester Röschen geht es jetzt glücklicherweise leidlich; sie grüßt mit mir Dich und Deine liebe Frau herzlichst. Hoffentlich geht es Euch und Euren Kindern gut! –

Walter ist mit seiner Familie im bayrischen Gebirge (Unterwössen bei Marquartstein); sie suchen in der Natur und in der Malerei Trost für den schweren Verlust ihrer lieben Renata. –

Lisbeth ist seit 8 Tagen mit ihren Kindern im Erzgebirge (Keipsdorf). Hans ist am Victoria-See und kehrt erst im October zurück.

– Fräulein Holgers, die mich öfter besucht und literarisch unterhält, erzählte mir heute von der Feier der Einweihung vom Denkmal für Ernst Abbe, bei dem Ostwald, der treffliche Praesident des Monistenbundes, am 29.7. eine ausgezeichnete Rede gehalten hat. –

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
02.08.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 32923
ID
32923