Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 28. Oktober 1870

Jena 28 October 70

Hochverehrter Freund!

Erst kürzlich bin ich von einer fünfwöchentlichen Reise nach dem Rhein und in das Elsaß, wo ich mir das herrliche neueroberte deutsche Land angesehen habe, zurückgekehrt, und fand hier das inzwischen eingetroffene Diplom vor, durch welches mich Ihre Münchener Akademie zum Mitgliede ihrer mathematisch-physikalischen Klasse ernannt. Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten Dank dafür entgegen, daß Sie diese für mich höchst ehrenvolle Anerkennung meiner || wissenschaftlichen Bestrebungen vermittelt haben, und sein Sie versichert, daß ich darin einen neuen Sporn erblicke, auf der glücklich betretenen Arbeits-Bahn mit vermehrtem Eifer fortzufahren!

Gegenwärtig bin ich noch ganz a von der Ausführung meiner „Monographie der Kalkschwämme“ in Anspruch genommen, für die ich jetzt eine Masse herrlichen, noch ganz unbekannten Materials beisammen habe, und die dem entsprechend einen ziemlichen Umfang annehmen wird. Die an sich unbedeutenden und kleinen Thiere sind deshalb vom allerhöchsten und fesselndsten Interesse, weil sich hier der „Ursprung der Art“ Schritt für Schritt im Einzelnen ganz wunderschön klar und sicher verfolgen läßt. ||

In den nächsten Osterferien muß ich noch einmal an das Mittelmeer gehen, um einige mir noch zweifelhafte Punkte in der feineren Anatomie der Calcispongien – besonders auch die offene Frage ihrer Sexualität – ins Klare zu bringen, und hoffe dann im Laufe des nächsten Jahres die Arbeit veröffentlichen zu können. Gleich nachher werde ich dann die Bearbeitung meiner canarischen Siphonophoren – die wegen den Kalkschwämmen halb vollendet liegen geblieben ist – wieder aufnehmen, und hoffe dann, b in den Abhandlungen Ihrer Akademie einen Platz für diese ebenso schönen als interessanten Thiere zu finden. Sie glauben nicht, wie wenig dieselben noch genauer bekannt sind – trotz Kölliker, Leuckart, Vogt, Gegenbaur etc. – und wie Viel für die feinere Erkenntniß noch übrig geblieben ist. ||

Durch Engelmann werden Sie inzwischen das für Sie bestimmte Exemplar meiner „biologischen Studien“ erhalten haben, eine Sammlung der Ihnen schon bekannten Aufsätze über Moneren etc. vermehrt durch Nachträge zur Monographie der Moneren und durch die „Catallacten“. Die letzten in ihrer rätselhaften Mittelstellung zwischen den verschiedenen Protisten-Gruppen scheinen mir neue Stützen für meine Auffassung der letzteren zu liefern.

In dieser Woche haben hier unsere Vorlesungen begonnen, die allerdings sehr dürftig, aber doch besser, als wir hoffen konnten, besucht sind. Statt den gewöhnlichen 40 Zuhörern in der Zoologie werde ich wohl nur 12–16 bekommen! Auch ein patriotisches Opfer auf dem Altar des Vaterlands! Deutschland zu Liebe wollen wir’s uns gefallen lassen!

Nochmals vielen Dank und freundlichen Gruß von Ihrem aufrichtig ergebenen

Haeckel

a gestr.: mit; b gestr.: eine

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
28.10.1870
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32686
ID
32686