Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Engelmann, Jena, 31. Dezember 1875

Jena 31 Dec 75

Lieber Freund!

Für Ihren freundlichen Brief und die darin enthaltenen kritischen Bemerkungen bin ich Ihnen aufrichtig dankbar. Sie haben zum großen Theile recht. Ich sehe jetzt selbst wohl ein, daß ich in den polemischen Angriffen der „Ziele und Wege“ vielfach zu einseitig geurtheilt habe und in der Hitze des Gefechts zu weit gegangen bin. Insbesondere hätte ich das, was ich als Einseitigkeit und Mangel der heutigen Physiologie getadelt, vielmehr auf eine Schule derselben schieben sollen; bei dem Einflusse Ludwig’s ist diese allerdings nicht wenig umfangreich. ||

Ich muß aber gerade Ihre weitgehende und beide Theile der a Biologie umfassende Stellung als rühmlichste Ausnahme betrachten. Ich bitte, dies nicht als Compliment, sondern als Ausdruck meiner aufrichtigen Überzeugung zu betrachten. Gerade deßhalb wünsche ich auch so sehr, daß Sie bald zu einer einflußreichen Stellung an einer deutschen Universität gelangten. Sie haben sich aber auch von jeher mit viel mehr Interesse und Verständniß um die Morphologie bekümmert, als es Ihren physiologischen Collegen eingefallen ist. Die letzteren werden z. B. Ihre schöne Arbeit über die Entwicklung der Infusorien, die ich natürlich mit lebhaftestem Interesse gelesen habe und sehr hoch schätze, || mehr als eine Meinung, denn als ein Verdienst ansehen. Auch möchte ich bestreiten, daß „die Physiologen“ sofort nach Darwins Auftreten die Descendenz-Theorie acceptirt und als selbstverständlich betrachtet hätten. Außer Ihnen, Du Bois und einigen Anderen, dürften das nur sehr Wenige sein. Ludwig hat auch bis vor Kurzem sich über diesen „Schwindel“ lustig gemacht; natürlich nehmen das die Meisten seiner sehr zahlreichen Schüler gläubig auf. Wie ich höre, haben auch kürzlich Kühne, Fick u. A. ähnlich sich ausgesprochen. Dagegen haben nur sehr Wenige sich gelegentlich umgekehrt geäußert. Hoffentlich werden Sie um so mehr fortfahren, dieser hochwichtigen Sache Ihr warmes Interesse zu widmen. ||

Ihre Versuche über Hydra haben mich im höchsten Grade interessirt und ich bitte Sie dringend, dieselben zu vollenden und zu publiciren. Ich war von jeher fest überzeugt, daß die Umstülpungs-Versuche Trembleys auf einem Irrthum beruhen und halte ein physiologisches Einbauen des entwickelten Entoderms für das Ectoderm (und umgekehrt) für eben so unmöglich, wie ihre morphologische Umwandlung. Ob die Thiere in stehendem oder fließendem Wasser gehalten werden, halte ich bei ihrer großen Indolenz für gleich. Sie werden übrigens in Leipzigs stehenden Tümpeln sich leicht Hydra in Menge verschaffen können. Die farblose Art (H. grisea) kann ich Ihnen von hier senden. Die grüne ist durch den Eisenbahnbau (wobei die betreffenden Tümpel zugeschüttet wurden) hier ausgestorben.

– Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen pro 1876

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel

a gestr.: Ph

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.12.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Staatsbibliothek Berlin PK
Signatur
Slg. Darmstaedter, Lc 1875: Haeckel, Ernst
ID
32405