Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Hasse, Jena, 11. August 1874 [Abschrift]

Jena, den 11. August 74.

Herrn Professor C.Hasse

Breslau

Verehrter Herr Kollege!

Entschuldigen Sie freundlichst, dass ich erst Ihren lieben Brief beantworte und das Manuskript des Herrn Berliner zurücksende. Es war mir aber rein unmöglich, letzteres früher aufmerksam zu lesen, und erst gestern habe ich dazu einen freien Abend gefunden. Den ganzen Sommer bin ich mit der Vollendung einer halbpopulären „Anthropogenie“ beschäftigt gewesen, die ich Ihnen in den nächsten 14 Tagen senden zu können hoffe und für die ich im Voraus um Ihr wohlwollendes Interesse bitten möchte. In den letzten Wochen raubt mir die Bonner Berufung alle Zeit und Ruhe, über die Sie wohl ebenso erstaunt gewesen sein werden als ich selbst. Die Lage war sehr eigentümlich und der Ruf in vieler Beziehung sehr verlockend. Trotzdem habe ich schließlich doch abgelehnt, da ich hier besser zu arbeiten können glaube. Wie schade, dass Sie nicht hergekommen sind! Das ist mein wiederholter Gedanke, besonders wenn ich einmal mit meinem anatomischen Collegen zusammengetroffen bin, dessen Interessenkreis nichts Höheres als Becherzellen, Stachelzellen und Riffzellen kennt. Was haben Sie zu seinem Nekrologe zu Max Schultze gesagt? Der Arme Mann!

Herrn Berliner’s Arbeit habe ich mit grösstem Interesse gelesen und mich sehr gefreut, dass überhaupt ein angehender Forscher an solche schwierige allgemeine Fragen sich wagt, und sie mit solcher logischen Consequenz behandelt. Das erste Drittel hat mir am besten, das zweite weniger, und das dritte am wenigsten gefallen. In letzterem ist viel zu wenig Rücksicht auf die Vererbung genommen, besonders S.23–27 etc. Bezüglich der Attractions-Centren (S.10) wird Herr Berliner sehr wichtige neue Tatsachen demnächst in Schultzes Archiv durch meinen botanischen Collegen Strasburger erfahren. Sehr gut finde ich die Behandlung der Copulation und der Zelltheilung und stimme namentlich bezüglich der Gregarinen etc. wesentlich || mit ihm überein. Im Ganzen halte ich es für sehr vorteilhaft, dass Herr Berliner mit der Publication der Arbeit sich nicht übereilt; die Gedanken wird ihm niemand wegnehmen; wohl aber wird er, nachdem er sie längere Zeit nicht angesehen, und ihr demnach objektiver gegenübersteht, Veranlassung nehmen, noch Mancherlei zu verbessern. Ohnehin muss er die sehr wichtige Entdeckung des jungen van Beneden über den Ursprung des Sperma aus dem äusseren, der Eier aus dem inneren primären Keimblatte, über die mein Assistent (Koch) identische Beobachtungen gemacht hat, verwerthen, und auch Ludwigs Ei-Arbeit berücksichtigen müssen. Auch die Form muss klarer und durchsichtiger werden. Im Uebrigen würde ich Herrn Berliner aufrichtig Glück zu der betretenen Bahn. In 8Tagen gehe ich auf mehrere Monate ins Gebirge. Ich bin sehr abgearbeitet und bedarf dringend der Erholung.

Mit freundlichen Grüssen

Ihr

E.Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
11.08.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
31996