Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Albert Niess, Heidelberg, 31. August 1875

31/8 75 Heidelberg

Lieber Herr Niess!

Endlich bin ich seit vorgestern wieder auf Reisen, und von der schweren Arbeitslast befreit, die mich seit den letzten Monaten drückte. Da sollen denn die ersten freien Stunden, die ich hier in Heidelberg genieße, dazu benutzt werden, Ihnen einen freundlichen Gruß zu schicken und von Herzen für den lieben Brief zu danken, durch den Sie mich im Juli erfreuten; und ebenso für das prächtige Gedicht: „Gebetserhörung“, welches mir ganz aus der Seele geschrieben ist. Ich denke, Sie werden in einigen Jahren einmal eine Auswahl von Ihren Gedichten drucken lassen; sind doch viele darunter, mit denen Sie gewiß großen Anklang finden werden. || Ich würde mich sehr gefreut haben, wenn Sie mich in diesem Sommer wieder besucht hätten. Indessen war es insofern besser, daß Sie nicht Anfang August kamen, als es gerade damals so schlimm bei uns aussah: alle drei Kinder an Keuchhusten krank (die Kleinste schwer), meine Frau durch die Pflege sehr angegriffen, und ich mit allerlei Arbeit überhäuft. Hoffentlich führen Sie Ihren Besuch nächsten Sommer unter günstigeren Verhältnissen aus und bringen dann auch Ihre liebe Frau mit. Ich werde mich sehr freuen, sie kennen zu lernen. Hoffentlich können wir zusammen dann einige Ausflüge nach Thüringen machen. Ohne äußeren Anstoß komme ich nie zu solchen. || Meine Reise nach Corsica und Sardinien (im März und April) verlief sehr glücklich. Ich hatte 2 Schüler mitgenommen und verweilte die längste Zeit in Ajaccio, dem Geburtsorte Napoleon I. Der Ort liegt sehr schön und überhaupt ist Corsica in landschaftlicher Beziehung prächtig. Meine Arbeiten betrafen vorzugsweise die Gasträa-Theorie, für die ich viele und wichtige neue Stützen gesammelt habe. Jetzt bin ich mit der Ausarbeitung beschäftigt, außerdem mit der VI. Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ und mit der III. Auflage der Anthropogenie. Letztere werde ich wesentlich verbessern. Das Buch hat viel mehr Beifall und Theilnahme gefunden, als ich erwarten durfte und wird, glaube ich, die Schöpfungsgeschichte noch überflügeln. 4000 Exemplare sind in 10 Monaten verkauft. || Diese günstige Aufnahme hat mich wirklich überrascht, weil der Stoff doch sehr spröde ist, und die Lectüre immerhin beträchtliche Aufmerksamkeit fordert. Auch an gehörigen Angriffen (die der Sache sehr förderlich sind) fehlt es nicht. So hat neulich der katholische Theologe Prof. Michelis eine wüthende „Haeckelogonie“ publicirt, in der ich (nebst D. F. Strauß) zu den „Schandflecken Deutschlands“ gerechnet werde! – Ihr Freund und Arzt Dr. Rossmann hat mich im Juli besucht. Er schien dem Darwinismus nicht recht zu trauen. – Daß Sie mit Ihren Erfolgen im letzten Jahre zufrieden sind, freut mich sehr zu hören; hoffentlich gehts immer besser.

– Meine Frau grüßt mit mir herzlichst! Ihr treu ergebener

E. Haeckel

P.S. Im October kehre ich nach Jena zurück, 4 Wochen denke ich in der Schweiz zu bleiben.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.08.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Stadtarchiv Braunschweig
Signatur
G IX 8: 11
ID
31906