Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 30. Dezember 1894
Wien, XIX. Colloredogasse 1.
30.12.1894.
Hochverehrter Herr!
Ich habe mir vor ein paar Tagen erlaubt, meinen „Robespierre“ an Ihre Adresse abgehen zu lassen, und bitte Sie, dies Werk, die Frucht einer zehnjährigen Arbeit, als Zeichen meiner unbegrenzten Verehrung für den Forscher Haeckel, als geringe Gegengabe für die reichen Geschenke, mit denen mich der liebenswürdige Mensch Haeckel bedacht, entgegenzunehmen! Der Besitz Ihrer „Arabischen Korallen“ macht mich glücklich. Nicht nur, weil ich all’ die Vorzüge Ihrer anderen Werke, vor allem die klassische Gnadengabe, die wissenschaftlich || complicirtesten Dinge in künstlerisch vollendeter Darstellung ebenso schön als einfach auszudrücken, darin wiederfinde, sondern weil ich aus Ihren Zeichnungen noch einen anderen Haeckel kennen lerne, der mir, weil er selbst ein Künstler war, nun umso näher trat. Wie gern’ hätt’ ich Ihnen dies Alles schon längst gesagt! Aber es galt, mein Werk zu vollenden, und zudem war ich vom Stimmungsteufel in einer Weise geplagt, wie ich dies selbst an mir noch nie erfahren. Noch selten hat mich ein Stoff derart besessen – nie menschliche Schicksale mich also erschüttert! Und Individualitäten wie diejenigen, die ich in diesem Epos nachschaffen durfte, werden mir nie wieder begegnen. Es war immer meine Überzeugung, dass das eigentliche Ende des Mittel-||alters erst mit der französischen Revolution hereingebrochen sei. Sie ist der große, historische Triumphgesang der Gattung, die sich in ihren Rechten und ihrer Aufgabe zum erstenmale selbst begreift. Und in welchen Individuen differenzirt sie sich da! Ich bin überzeugt, dass mir mit diesem Stoff die geistige Formeln gegeben waren, innerhalb derer sich immer wieder der Kosmos unserer Cultur erneuern wird. Ich weiß, dass Sie, hochverehrter Herr, viel zu sehr durch Ihre eigene wissenschaftliche Thätigkeit in Anspruch genommen sind, als dass ich Ihnen zumuten könnte, das ganze Werk so bald, wenn überhaupt zu lesen. Aufmerksam machen will ich Sie aber auf den Schlussge-||sang des I. Bandes „Die Mysterien der Menschheit“; nicht etwa, weil er meine Art und Weise in diesem Epos besonders beleuchten könnte, denn gerade dieser ist nur Episode – sondern weil ich in ihm die Weltanschauung dichterisch verklärt habe, für die Sie mit so glänzendem Erfolge gekämpft, die uns Beiden so theuer ist! ‒ Dass Ihnen mein Bild gefiel, freut mich herzlich, und Ihr Compliment nehm’ ich mit nicht geringem Stolze als das, eines idealen Fachmannes entgegen. Glücklich gemacht hat es mich, dass Sie mir, hochverehrter Herr, durch die Zusendung der Festschrift anlässlich Ihres Jubiläums in Gedanken in ein Symposion geladen, das so schön zu feiern, nur wenig Auserwählten bestimmt ist. Meine kühnsten Wünsche aber haben Sie durch Ihre, in Aussicht gestellte Reise nach Österreich gekrönt! Sie, den ich seit meiner frühesten Jugend bewundert, der, ohne es zu ahnen, in Vielem der Lenker meiner Phantasie geworden, in Wien oder Salzburg von Angesicht zu Angesicht sehen zu können, wird ebenso stolz als glücklich machen,
Ihre Sie verehrende
E. delle Grazie.