Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 23. November 1918

München Schankstr. 2III d. 23. November 1918.

Hochverehrter und lieber Freund!

Die Zeiten sind so unsagbar elend und traurig, daß es Überwindung kostet, an liebe Freunde Briefe zu schreiben. Denn alles was Liebe und Freundschaft heißt, tritt zurück hinter dem Leid, das unserem herrlichen Deutschland wiederfahren ist. Und doch empfinde ich wieder als Unrecht, sich einzuschachteln und die Interessengemeinschaft zu vernachlässigen, die uns mit lieben Menschen verbindet. Besonders Ihnen, meinem hochverehrten Lehrer gegenüber, empfinde ich es als Unrecht.

Von den Revolutionstagen in München habe [ich] || wenig gemerkt. Ich war Donnerstag und Freitag auf dem Land in Schlederlohe. Am Samstag ging es schon wieder ganz ruhig zu, und so ist es auch die letzten 14 Tage geblieben. Unsere Regierungen haben sich an diesen Tagen jämmerlich blamirt. Die leitenden Kreise, unser Minister des Innern und unser Kriegsminister, haben sich vollkommen überraschen lassen. Der Kriegsminister beruhigte den von anderen Seiten gewarnten König um 3 Uhr Nachmittags und um 6 Uhr brüllte und heulte die Menge vor dem Wittelsbacher Palais. Abends floh er im Automobil Hals über Kopf aus München. Dabei ging die Revolution von einer relativ kleinen Zahl Soldaten aus, meist jungen Burschen, während die Mehrzahl die Revolte mißbil-||ligte. Aber es fehlte an Organisation, um die friedlichen Elemente zur Geltung zu bringen.

Was wird nun aus Deutschland werden? Daß wir Elsass verlieren, ebenso die polnischen Theile Preussens, unterliegt wohl keinem Zweifel. Wie wird es aber mit gut deutschen Grenzgebieten, wie Bozen, Danzig werden? Es wäre arg, wenn auch sie dem Deutschthum verloren gingen. Wie wird es ferner mit unsern Universitäten werden? Ein Theil der Münchener Sozialdemokratischen Regierung ist den Professoren feindselig gestimmt, darunter der Ministerpraesident Kurt Eisner. Es ist zu befürchten, daß man die Professoren drücken und die Privatdozenten fördern wird.

Wie froh bin ich daß unser Otto nicht || mehr in Frankreich ist und nicht den Hohn und die schlechte Behandlung erleiden muß, die schon früher schlimm war, jetzt aber sicherlich ins Ungeheure gesteigert ist. Zur Zeit ist er in Luzern, einquartirt in einem des luxuriösesten Hotels (Montana) in dem er sich bei seinem Sinn für Einfachheit gar nicht behaglich fühlt. Er beschäftigt sich mit Kunstschlosserei und Bildhauerei an der Luzerner Kunstgewerbe Schule.

Meine Frau ist in allerlei patriotischen und Wohlthätigkeitsvereinen beschäftigt. Zur Zeit hat sie viel mit den Vorbereitungen zum Empfang unserer zurückkehrenden Soldaten zu thun.

Auch mich erwartet viel Arbeit. Da demnächst viele Studierenden aus dem Feld zurückkommen, wird es nothwendig sein, im Januar eine Art Zwischensemester zu beginnen. Bestimmte Beschlüße sind darüber noch nicht gefasst.

Zum Schluß noch viele herzliche Grüße von meiner Frau und Ihrem treulichst ergebenen

R. Hertwig

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.11.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30553
ID
30553