Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 22. Dezember 1872
Bonn den 22ten December 1872.
Hochverehrter Herr Professor.
Herzlichsten Dank für die Übersendung der Tafeln und Abdrücke aus Ihrem Spongienwerk sowie für die das Packet begleitenden freundlichen Zeilen, welche heute vor 8 Tagen unseren Besitz gelangten. Gern würde ich Ihnen umgehend geschrieben haben, wenn wir nicht Beide die letzten 14 Tage, die glücklicherweise nun hinter uns liegen, so sehr mit Arbeiten überhäuft gewesen wären. Seit gestern sind wir mit der zweiten Station des Staatsexamens: Chirurgie und Augen-||heilkunde fertig geworden. Beide Fächer bilden den am längsten dauernden Theil des Examens. Jeden Morgen früh examinirt zu werden des Nachmittags auf dem Präparirsaale 2 Stunden die Präparirübungen zu überwachen ist eine anstrengende Beschäftigung. Dazu plagtea mich die ersten Tage eine Erkältung mit Schnupfen und Angina, so daß ich die Plagerei oft herzlich satt hatte. Um so wohlthuender ist jetzt die Festtagsruhe, die seit heute auf der Anatomie herrscht und deren wir uns volle 14 Tage zu erfreuen haben werden, da die Praeparirübungen und die Fortsetzung des Examens erst am 3ten oder 4ten Januar beginnen || werden.
Die heutigen Musestunden haben wir benutzt um die abgedruckten Kapitel Ihres Spongienwerks durchzulesen. Den Einblick, den wir hierbei, so wie durch Ihre Mittheilungen während unseres Jenenser Aufenthalts in den Gang der Untersuchungen gewonnen haben, hat uns um so mehr auf das Ganze gespannt gemacht, als es die erste Monographie einer Thiergruppe ist, welche nicht allein die Möglichkeit einer Anwendung der Deszendenztheorie auf die Detailuntersuchung erweist, sondern auch darlegt, wie ungeheuer fruchtbringend gerade der Darwinismus für eine geistvolle Detailforschung gewesen ist. Die beiliegenden Abdrücke haben wir || an ihre Addressen besorgt und haben als Erwiderung besten Dank und beste Grüße an Sie auszurichten. Max Schultze läßt Sie ebenfalls freundlichst grüßen. Seine Thätigkeit wird noch ganz von der Einrichtung des neuen Instituts absorbirt.
Professor Gegenbaurs neuerschienenes Buch haben wir uns angeschafft, aber noch nicht darin lesen können, ebenso Darwins Untersuchungen über die Affekte. Wir sind für den Dezember und Januar noch vollkommen von dem Examen in Anspruch genommen, dessen Druck wir um so mehr empfinden, je näher wir uns der langersehnten Freiheit fühlen.
Herzlichst grüßt Sie und Ihre werthe Familie
Ihr treu ergebener
Richard Hertwig
Beste Wünsche zu einem frohen Weihnachten von Oscar und mir.
a korr. aus: plagten