Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 23. Juni 1872

Bonn den 23ten Juni 1872

Hochverehrter Herr Professor.

Entschuldigen Sie, daß Ihre freundlichen Zeilen erst so spät eine Beantwortung von meiner Seite erfahren. Die leidigen Doktor- und Staatsexamina machen Oscar und mir recht Viel zu schaffen und lassen uns nicht oft zu der behaglichen Stimmung kommen, welche man sich zum Briefeschreiben wünscht. Von ganzem Herzen sehnen wir beide uns nach dem Augenblick, der als Examensschluß uns endlich zu Herrn unserer Zeit macht und || der Zwitterstellung, in der wir uns befinden, halb in der Medizin, halb in den Naturwissenschaften ein Ziel setzt. Ich hoffe, daß uns dann dera schöne Theil unserer Studienzeit noch bevorsteht.

Unsere Doktorarbeiten rauben uns mehr Zeit, als wir gedacht hatten. Wir haben beide das Thema ändern müssen. Oscar hat sich lange mit Methoden, welche die feinsten Verästelungen der Nervenfasern, nachdem sie marklos geworden sind, sichtbar machen sollten, abgemüht. Die Goldfloridmethode, mit der Cohnheim und andere so unerwartete Aufschlüsse gegeben haben, ist ihm bei der Cornea || zuvor geglückt, hat ihn aber bei der Haut der Petromyzonten Reptilien und Fische vollkommen im Stich gelassen. Oscar hat es noch nicht aufgegeben durch Suchen nach günstigen Objecten und verbesserten Verfahren, die Frage, die ja von Zeit zu Zeit immer wieder aufgeworfen wird, ob ein Theil der Epithelzellen Endigungen der Nerven sind, zu entscheiden; indessen ist er zur Ansicht gekommen, daß es ihm in der kurzen Zeit, welche ihm noch bis zum Doktorexamen zur Disposition steht, kaum gelingen möchte. Er hat daher eine zweite Arbeit begonnen, über die Entwicklung der elastischen Fasern speziell der im Netzknorpel vorkommenden. Zweck der Arbeit ist, einer erneuten Prüfung zu unterwerfen, ob wirklich die Fasern || nur Differenzirungen der Grundsubstanz sind, mehr oder minder unabhängig von der Thätigkeit des Zellprotoplasmas, oder ob nicht vielmehr enge Beziehungen zwischen Knorpelzellen und elastischen Fasern sichb nachweisen lassen, welche diese als Produkte der Thätigkeit jener darthun.

Ich habe einer Arbeit über die von Leydig in seinen Untersuchungen über Fische und Reptilien beschriebene Lymphdrüse des Störherzens begonnen. Seit der Veröffentlichung Leydigs hat man so mancherlei Neues über den Bau der Lymphdrüse veröffentlicht, daß die von Leydig angegebenen Charaktere nicht stichhaltig sind, das Organ ohne Weiteres für ein Lymphdrüse zu erklären.

Herzlich grüßt Sie und Ihre geehrte Familie

Ihr treu ergebener

Richard Hertwig

Beste Grüße von Oscar.c

a korr. aus: die; b korr. aus: von; c Text weiter am oberen Rand von S. 4: Beste … Oscar.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.06.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30434
ID
30434