Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 17. Dezember 1871

Bonn den 17ten December 1871.

Hochverehrter Herr Professor.

Die ersehnten Weihnachtsferien sind endlich da und bringen eine willkommene Abwechselung in die Eintönigkeit unserer medizinischen Studien. Zwar werden wir diesmal nicht wie in früheren Jahren, die Feiertage zu Hause verbringen, doch hoffen wir, daß das Mikroskop uns diesen Verlust nicht empfinden lassen wird. Wir haben in Absicht die Ferienzeit ganz der Histologie zu widmen und die Vorarbeiten zu unsern Doktordissertationen zu beginnen. Auf Rath von Herrn Prof. Schultze haben wir einstweilen die Histologie der Petromyzonten ins Auge gefaßt. Prof. Schultze hat kürzlich selbst die || Retina der Petromyzonten untersucht und hierbei erhebliche Abweichungen vom Blau der Retina dera übrigen Wirbelthiere gefunden z. B. die Anordnung der Sehstäbchen in 2 übereinander liegenden Ebenen. Es mag dies seine Aufmerksamkeit auf die histologisch bis jetzt so wenig untersuchte Cyclostomengruppe gerichtet haben. Material zur Arbeit können wir uns stets frisch aus dem Aquarium des Kölner zoologischen Gartens verschaffen.

Wie Sie wohl schon erfahren haben, hat Schultze einen Ruf nach Leipzig erhalten. Bis jetzt ist er noch immer schwankend, ob er seinen alten Wirkungskreis verlassen soll oder nicht. Es scheint mir, daß Familienverhältnisse es hauptsächlich sind, die ihn zu keinem Entschluß haben kommen lassen. Die Eltern seiner Frau leben in Bonn und werden wohl Tochter und Schwiegersohn ungern missen. So weit ich || nach dem, was ich von Bonn kenne und von Leipzig gehört habe, die Verhältnisse beurtheilen kann, hat letzteres große Vorzüge voraus: die große Anzahl der Studirenden, den Aufschwung, den die Universität von Jahr zu Jahr nimmt, die Nähe zweier anderer Universitäten Jena und Halle. Bonn dagegen ist eine Lokaluniversität und dazu noch eine katholische. Denken Sie sich, Herr Professor, von 750 Studenten sind 600 Rheinländer und Westphalen und nur 150 aus anderen deutschen Provinzen und außerdeutschen Ländern, von 175 Medizinern sind 150 Rheinländer, 25 Fremde.

Verläßt Prof. Schultze Bonn, dann sind wir fest entschlossen ihm nach Leipzig zu folgen. Es trifft so Vielerlei zusammen, was das Scheiden von Bonn erleichtert, so zufrieden wie wir auch im Allgemeinen mit unserm Aufenthalt sind. Die innere Klinik giebt sehr viel Veranlassung || zu Klagen, indem sie kaum etwas anderes bietet, als ein sehr detaillirtes Bild der Lungenschwindsucht. Hauptsächlich läßt uns aber die Nähe von Jena und Mühlhausen eine Übersiedelung nach Leipzig wünschenswerth erscheinen.

Bei Prof. Rindfleisch haben wir vor einigen Wochen einen sehr vergnügten geselligen Abend verlebt. Seine Einladung kam uns ganz unerwartet, da wir weder bei ihm eingeführt waren noch Besuch gemacht hatten; um so größer unsere Freude über sie, zumal das Rindfleisch ebenso liebenswürdig im Umgang als ein anregender Lehrer ist.

Herzlichst grüßt Sie und Ihre Familie und wünscht Ihnen ein vergnügtes Weihnachten

Ihr treu ergebener

Richard Hertwig.

Beste Grüße von Oskar.

a korr. aus: bei

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.12.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30432
ID
30432