Hertwig, Oscar

Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 8. Dezember 1872

Bonn, den 8ten December

1872.

Hochgeehrter Herr Professor!

Wir hätten schon etwas von uns verlauten lassen, wenn nicht die letzte Zeit eine in jeder Beziehung sehr unruhige für uns gewesen wäre. Seit 5 Wochen wohnen wir auf der neuen Anatomie. Als wir einzogen, waren weder die Praeparirsäle noch auch unsere Zimmer ganz fertig und das Haus war von Aufstreichern, Malern und Tischlern noch stark bevölkert, so daß es anfänglich ein wenig erbaulicher Aufenthalt war. Doch blieb uns keine andre Wahl übrig, da mit Anfang || der Collegien unsre frühere Wohnung vermiethet wurde und wir noch froh sein mußten von unsern alten Miethsleuten ein ungeheiztes Dachstübchen als interimistischen Aufenthalt für acht Tage überlassen zu bekommen. Der Umzug aus der alten in die neue Anatomie, die Einordnung der Sammlungen und der Bibliothek hat uns ebenfalls volle acht Tage von Morgens früh bis Abends spät zu schaffen gegeben. Dazwischen beschäftigten uns die Vorbereitungen für das Staatsexamen, welches wir vor 3 Wochen begonnen haben. Mit der ersten Station (Anatomie, Physiologie, Pathologischer Anatomie) sind wir seit || längerer Zeit fertig und stehen wir jetzt in der zweiten Station (Chirurgie und Augenheilkunde), die wir bis Weihnachten zu beendigen gedenken. Ende Januar werden wir dann hoffentlich das ganze Staatsexamen hinter uns haben, ein Ziel auf’s sehnlichste erwünscht!

Prof. Max Schultze hat vor vier Wochen seine Vorlesungen und die Praeparirübungen im neuen Gebäude begonnen. Die Zahl der Praeparirenden beläuft sich auf 90. Leider haben wir noch etwas über Leichenmangel zu klagen, da Bonn selber gar nichts liefert und alles von weit her per Wagen herbeigeschafft werden muß. || Da diesen Winter für selbstständige histologischea Arbeiten das Practicum noch nicht begonnen hat, so beaufsichtigen wir, beide mit einander abwechselnd, die Praeparirübungen von 11–1 und 2–4 Uhr. Für unsere anatomischen Kenntnisse haben wir dabei schon viel profitirt.

Vergangenen Sonntag waren wir zu Frau Prof. Bleek gebeten. Sie und ihre Fräulein Tochter befinden sich recht wohl. Für nächsten Sommer geht sie mit dem Plane um, sich ein eigenes Haus bauen zu lassen.

Beifolgend überschicken wir Ihnen unsre Doctordissertationen, die nun auch ihre Tafeln erhalten haben.

Mit dem Wunsche, daß diese Zeilen Sie und Ihre Familie recht gesund antreffen mögen, verbleibe ich mit vielen Grüßen

Ihr Oscar Hertwig.

Beste Grüße von Richard.

a korr. aus: histologischen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
08.12.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30369
ID
30369