Hartmann, Eduard von

Eduard von Hartmann an Ernst Haeckel, Berlin, 28. Dezember 1875

Berlin, den 28. December 1875.

Hochgeehrter Herr Professor!

Gestatten Sie mir, Ihnen mit den besten Wünschen zum Jahreswechsel meinen herzlichen Dank für die schöne Weihnachtsgabe auszusprechen, welche Sie mir durch die Reimersche Verlagshandlung gütigst haben zugehen lassen, so wie auch nachträglich für Ihre neueste Broschüre und für die Abhandlung aus der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft ergebenst zu danken. Ich verfolge mit lebhaftem Interesse und aufrichtiger Freude Ihre fruchtbare Tätigkeit, und wünsche derselben auch fernerhin gedeihlichen Fortgang. Zu Ihrer Polemik gegen His, in der ich mich zu einem sachlichen Urteil incompetent bekenne, möchte ich mir eine Bemerkung über die formelle Methode erlauben. Ich glaube nicht, daß Ihr biogenetisches Grundgesetz Ihnen ein Recht gibt, die His’sche For-||schungsweise apriori für unfruchtbar und unbrauchbar zu erklären, wiewohl die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß auf diesem Wege sich aposteriori keine Resultate von Bedeutung ergeben, und der sachliche Werth der His’schen Arbeiten selbst hier ganz außer Betracht bleiben mag. Ich meine nämlich: wenn einerseits die Vorfahrenreihe ursächliches Moment für den ontogenetischen Entwickelungsgang eines Keimes ist, so kann doch dieser Einfluß kein magischer oder mystischer sein, vielmehr muß ina den gegebenen molecularen Lagerungsverhältnissen des Keimes selbst dieser Einfluß niedergelegt sein, und aus ihnen nach rein mechanischen Gesetzen die ontogenetische Entwickelung hervorwachsen. Ist dem so, so bleibt auch das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, offen, nach diesen mechanischen Wachsthumsvorgängen im Keim zu forschen, unbekümmert um || die biogenetische Vorgeschichte des Ausgangspunktes, der einfach als in dieser Beschaffenheit gegeben hingenommen werden kann. Alles was einerseits alsb individuelle Recapitulation der Vorgeschichte des Keims gedeutet werden muß, muß andrerseits auch als rein mechanischer Proceß seine Richtigkeit haben, und als solcher ein Object der Forschung werden können. Beides sind nur verschiedene Gesichtspunkte der Betrachtung, die wohl zeitweilig voneinander abstrahiren, aber nicht sich auf die Dauer gegeneinander verschließen können, die vielmehr sich gegenseitig aufhellen und ergänzen müssen. Sie verschließen Sich gewiß nicht gegen den 2.Gesichtspunkt, aber Sie könnten eben deshalbc vielleicht nachsichtiger urtheilen über die methodische Tendenz eines Forschers, der sich vorgesetzt hat, zeitweilig von dem ersteren zu abstrahiren, und dadurch zu einer einseitigen Betonung der Wichtigkeit || des zweiten sich verrannt hat. Vielleicht interessirt es Sie, hierin den Eindruck sich spiegeln zu sehen, den diese Polemik auf einen draußen stehenden Laien macht.

Im November erlaubte ich mir, Ihnen die Nachträge zur 7.Aufl. der Philosophie des Unbewußten, im September zwei kleine Broschüren „Zur Schulreform“ und über „Kirchmann’s Realismus“ zu übersenden, und werde Ihnen demnächst die ersten Lieferungen meiner „Gesammelten Studien u. Aufsätze“ zu überreichen habend, in deren Fortgang auch mein Aufsatz aus der Deutschen Rundschau wieder abgedruckt wird. Das Reich’sche Athenäum (Verlag von Costenoble) beginnt mit dem 1Heft nächsten Jahrgangs eine 6Druckbogen lange Abhandlung von mir über „Die sittliche Freiheit“, in der vielfach auf das psychiatrische Gebiet hinübergegriffen ist.

Mit nochmaligen Wünschen zum Jahreswechsel und hochachtungsvollem Gruße verbleibe ich Ihr aufrichtig ergebener

E.v.Hartmann.

a gestr.: aus; eingef.: in; b eingef.: als; c eingef.: eben deshalb; d eingef.: haben

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.12.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30204
ID
30204