Hartmann, Eduard von

Eduard von Hartmann an Ernst Haeckel, Berlin, 4. November 1874

Berlin den 4ten November 1874.

Hochgeehrter Herr!

Herzlichen Dank für die freundliche Beantwortung meines Schreibens und die gefällige Mittheilung des gewünschten Materials. Ich werde sogleich an das Schreiben gehen, da ich die Anthropogenie von Anfang bis zu Ende mit ebensoviel Aufmerksamkeit als Belohnung und Genuß bereits durchstudirt habe.

Ein Blatt der „Literatur“ habe ich Ihnen nicht geschickt, es muß wohl die Redaction gethan haben. Auch können Sie aus einem solchen herausgerissenen Stück meine Intentionen schwerlich erkennen. Das ganze Buch wird 12Bogen lang werden, und Ihnen hoffentlich ein deutliches Bild meines Standpunks liefern.

Da Sie mir auch brieflich wieder die anonyme Schrift über das „Unbewußte pp.“ vorhalten, so will ich || Ihnen gegenüber mit einem Bekenntniß nicht zurückhalten, welches ich jedoch bitte, als vertrauliche Mittheilung völlig discret zu behandeln. Die genannte Schrift mit ihren Argumenten kann mir nämlich einfach deshalb nicht imponiren, weil sie von mir ist. Einige, die meine Philosophie näher kannten (z.B. Zöllner), haben diesen Maskenscherz durchschaut, im Ganzen aber scheint mir die Maskerade dem Publikum gegenüber gelungen. Einerseits wollte ich verschiedene Charaktere in Betreff der mechanischena Vermittelungsweise teleologischer Aufgaben an meinem Hauptwerk anbringen, die in eine neue Auflage ohne Störung der ganzen Architektonik nicht wohl zu verweben waren; andrerseits wollte ich zeigen, daß ich die mecha-||nische Weltansicht des Darwinismus beherrsche, indem ich mich auf ihren Standpunkt versetze, und das als der Ersteb aussprach, was unfehlbar über kurz oder lang von dieser Seite her ausgesprochen werden mußte. Indem ich beides mit einander verband, und die zweite Person eines Bücherdialogs darstellte, zeigte ich zugleich, daß ich diesen Angriff nicht fürchte, und mich innerlich gegen ihn sicher fühle. Das dumme Publikum aber würde solche Motive nicht verstehen, es verlangt die philosophische Wahrheit nicht im Proceß des Werdens sondern als gar gebackene Pastete, und würde in solcher höheren Entwickelung der Platonischen Form des Dialogs nur sophistische Gesinnungslosigkeit sehn. Sie mögen hiernach ermessen, wie groß die Chancen sind, mich zur me-||chanischen Weltansicht zu bekehrten, – und zur Descendenztheorie brauche ich ja nicht mehr bekehrt zu werden. Glauben Sie, daß es sich bei mir nicht darum handelt, etwas zu leugnen was Sie aufgestellt, sondern etwas aufzustellen was Sie geleugnet haben – d.h. die Grenze, die Sie gesteckt, zu überschreiten. Ihr Fach bewegt sich innerhalb dieser Grenze, und nur das bekämpfe ich, daß Sie feste Grenzen ziehen wollen, wo Sie ruhig das Gebiet für andre Special- oder -Universalwissenschaften als offen zugestehen könnten. Sie sagen: hinter dem Mechanismus der (empfindenden) materiellen Atome ist nichts weiter; ich sage: da fängt es erst recht an.

In aufrichtiger Hochachtung

Ihr

ergebener

E.v.Hartmann.

a gestr.: teleologischen; eingef.: mechanischen; b eingef.: als der Erste

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
04.11.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30198
ID
30198