Nebuschka, Marie Luise

Marie Luise Nebuschka an Ernst Haeckel, Dresden, [nach April 1917]

Dresden-Klotzsche

Bahnhofstr. 8.

Hochverehrter liebste Exzellenz!

Vor allem meinen allerherzlichsten dank für das geliehene Werk „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, daß [!] ich anbei zurückerstatte. Ich war so froh darüber, daß ich es noch 2 Monate länger behalten durfte, so habe ich noch viel Schönes u. Interessantes daraus lesen können, u. habe ich durch Ihre große Güte wieder einige schöne Abende gehabt. – Alles Gute u. Schöne, was mich an das Leben gefesselt hält u. stets halten wird, kommt ja von Ihnen. Und ich kann aus meinem einsamen Winkel heraus immer nur danke sagen, ohne Ihnen auch nur im geringsten || Ihre reichen Gaben erwidern zu können. Hätte ich das Glück, in Ihrer Nähe tätig zu sein, dann wäre das vielleicht leichter u. schöner für mich.

Aber das sind Luftschlösser, ich weiß. Und doch, ich baue sie gern; lösen sie uns doch für Augenblicke vom wirklichen Leben ab u. führen uns zu luftiger Höhe. – Habe ich eine Ihrer Schriften nicht zur Hand, so habe ich doch etwas davon im Kopf u. das läßt mich dann wieder frei atmen u. – hoffen.

Ihre großartigen Vorträge in der natürlichen Schöpfungsgeschichte haben mich sehr gefesselt, besonders der 30. u. 28. mit seiner systematischen Übersicht der 12 Menschenrassen. Wie ist das alles aufgebaut! Könnt ich es doch einmal ganz verstehen lernen, so wie ich möchte. ||Durch meine Unbildung fühle ich, habe ich nur den halben Genuß. –

Nicht zuletzt hat mich natürlich alles über monistische Naturphilosophie angezogen. – Exzellenz, ist unsere Entstehung wirklich der einzigste Beweis unsrer Sterblichkeit? Denken Sie, manche Tage drängt sich mir immer wieder der Gedanke auf, daß nicht alles in uns, in Manchema, sterblich sein kann. Natürlich verwerfe ich es dann wieder. Aber schauen Sie, z. B. die Tiefe u. Größe Ihres hohen Geistes, ist das für diese Welt allein? Haben Sie, hochverehrte Exzellenz, nicht manchmal das Gefühl, das Vieles in Ihnen ist, was garnicht möglich wäre hier anzubringen, da es garnicht verstanden würde. Aber es ist doch da, aber wofür? Der Mensch hier auf unsrer kalten Erde kann doch || nicht das Letzte sein mit aller Unvollkommenheit u. seinem Streben zur Vollkommenheit; vielleicht nur der Anfang zu Größerem.

Die hohen Geistesgaben, die große Sehnsucht nach Wärme u. Liebe ist doch in uns. Sollten diese nie Erfüllung finden? – Vielleicht, oder sicher bringen diese Gedanken nur all das Traurige, Trostlose mit sich in dem ich lebe.

Ich darf Ihnen das alles sagen Exzellenz, nicht wahr? Ich möchte das meine Seele die Sie neu belebt, offen vor Ihnen liegt. Ich weiß, ich müste [!] Ihnen stets alles wahr u. offen bekennen. Stehen Sie mir doch so nahe, wie sonst niemand.

Aus einem dieser Tage nun stammt folgendes Gedicht, Ihnen zugeeignet: ||

„Wie haben Deine großen Gedanken

Verscheucht alle Zweifel u. alles Wanken.

Erfüllte mir die Seele mit Morgenlicht.

Durch Deine Größe u. Liebe zur Wahrheit

Gabst Du uns Irrenden endlich die Klarheit,

Erkennend schau’n wir ein ander Gesicht.

O könnt es in alle Herzen dringen

Die zu Tausend verzweifelt am Boden ringen

Die ein törichter Wahn ergriff.

Weil all zu viel Hass u. nirgends die Liebe

Beherrscht der Menschen kleinliche Triebe

Sinkt schnell das bedrohte Schiff.

Du hast wol auch schon oft empfunden

Daß uns die größten, tiefsten Wunden

Schlug Menschenhass u. Neid.

Traurig wenden wir da den Blick,

Denken uns Größe u. Liebe u. Glück

In befreiender Einsamkeit.

– ||

Gleich absterbenden Organen

Scheint die Lieb’ Vererbung unsrer Ahnen

Spielend weist der Mensch sie ab.

Und nach zwecklosen Beginnen

Kommt zu spät ihm das Besinnen

Denn schon öffnet sich das Grab.

Allzusehr dem Tiere gleicht dies Wesen

Und wie sie wird Leib u. Seel verwesen

Durch Dein großes Wissen konnts [!] Du das ergründen.

Doch das tief im Innern, was man still verborgen hält

Weil es unbegreiflich dieser kalten Welt

Wo wird endlich das Erfüllung finden?“

––

Sie nehmen meine Gedichte wie sie gedacht sind, deswegen wage ich es, sie Ihnen zu schreiben. ||

Exzellenz, ich weiß es ist nutzlos, darüber zu grübeln, aber vielleicht ist mein Mißgeschick, daß mich seit Jahren verfolgt mit die Ursache.

Es scheint oft, als ob die Tür einmal dem Unglück geöffnet, ein ganzes Gefolge nach sich zieht.

Trotz aller meiner Bemühungen habe ich kein Engagement für den Herbst u. Winter gefunden.

Ich möchte die Zeit aufhalten, um nicht die Zukunft näher rücken zu sehen. Was soll ich tun? –

Mein Vater hat uns schweren Herzens seine päkuniäre [!] Lage mitgeteilt. Wie entsetzlich ist das alles. Wie gern will ich arbeiten gern u. viel, es braucht ja nicht beim Theater zu sein, nur geistig will ich nicht || einschrumpfen.

Wie sehne ich mich schon so lang fort nach Leben u. Arbeit, zu dem ich Lust u. Liebe haben kann.

Nur hier fort, wo ich so überflüssig u. niemandem etwas sein kann. Jetzt, wo meine kleine Schwester fort ist, fühle ich das so recht u. wird aus meiner Einsamkeit, Verlassenheit. – Lebensberechtigung hat nur, wer nützen kann! Oft sage ich mir das, oft strebe ich danach – vergebens, alles vergebens u. nutz- und zwecklos.

Meine Arbeit im Spital schien mir das auch, ich versuchte auch das trotz meiner störenden Blutarmut.

Aus dieser Zeit nahm ich ein ganz anderes || Bild unsrer Tapfern mit, wahrer wol, aber nicht schön. Da ist ja kein selbstdenkender Mensch mehr, alles steht nur unter dem eisernen Muß.

Wie unendlich hoch steht doch ein Märtyrer seiner Überzeugung diesen Tapfern gegenüber, die in blinder Leidenschaft oder auch nur auf Befehl ihren Mitmenschen niedermachen.

Würde sich dieser schreckliche Krieg um höhere Ziele drehen, wäre er gewiß manches Opfer wert, aber so – – – –.

Nach all diesem war die Einsamkeit Wohltat u. mit Hingebung laß [!] ich Ihre Worte. Ich hatte das Bedürfniss mich zu reinigen.

In diesen Tagen fiel mir ein kleines Gedicht || ein.

Da auch dies in Gedanken an Sie entstand, erlaube ich mir, es Ihnen zu schreiben.

„Auf sonniger Wiese versunken im Schau’n

Genieß ich dich, große Natur.

Du Kiefern Rauschen u. der Vöglein Gesang

ist die rechte Musik dazu.

Viel tausend Bienen u. Schmetterlinge

Umgaukeln die Blümelein hold

Die strecken wohlig ihr blühendes Köpfchen

Nach der Sonne strahlendem Gold.

‚Vergiss des Winters ewiges Grau

Schau vor Dich u. niemals zurück‘

So ruft es mir fröhlich ins Herz hinein.

Laß Dich festhalten Augenblick!

Doch schon tönt die Zeit mit mahnendem Ruf

‚Genug jetzt, kehre zurück.

Zu Menschenleid u. Sorg u. Not, ||

Bemessen ist jedem das Glück.‘

Warum fragte ich bang in vergangenen Tagen

Nun schweig ich u. gehe still heim,

Das Schicksal fordert nur, antwortet nicht.

Wir Menschen sind ihm wohl zu klein.“

––

Sie werden nicht zürnen, daß ich Ihnen so all meine Gedanken u. inneren Erlebnisse mitteile. Sie haben mich so ganz u. gar gefesselt: Schon der Gedanke, daß so große Menschen unter einem Himmel mit uns leben, entreißt mich oft trüben Stunden, u. ich bin ja so glücklich, endlich wieder Gelegenheit zu haben, Ihnen, hochverehrte Exzellenz zu schreiben.

Hoffentlich sind Exzellenz doch bei voller Gesundheit u. nicht allzu sehr durch die Folgen des Krieges in Ihrer geistigen Arbeit gestört. ||

Könnt ich Ihnen doch helfen.

Ist es denn nicht möglich?

Ich kann doch klein anfangen u. mich nach u. nach hineinarbeiten in vieles, soweit mein Verstand ausreicht. Das Feld ist doch so groß.

Interesse u. Liebe habe ich dazu, das brauch ich wohl Ihnen, Exzellenz, kaum noch zu versichern.

Ich würde das lieber als alles andere; denn beim Theater habe ich nicht das gefunden, was ich für selbstverständlich hielt. Die Kunst steht mir zu hoch für diese Ausführung u. wol nie findet da einer den rechten Platz. Da wäre auch ein Umschwung nötig. –

Vielleicht können mich Exzellenz empfehlen, falls Sie nicht selbst eine Hilfe brauchen. ||

Es wäre die Erfüllung meiner höchsten Wünsche, an diesem großen Werk mit bauen zu helfen, wenn auch nur im Kleinen, als hilfreiche Hand.

Hoffentlich verstehen Exzellenz mich nicht falsch, oder halten es gar für Laune. Ich hänge daran seit einem Jahr, ernst u. fest.

Die Stunden, in denen Sie zurerst zu mir kamen waren so überwältigend, so tief ihre Wirkung, ich kann u. will mich nicht mehr losreißen. –

Hoffentlich kommt Ihnen meine Bitte nicht ungelegen, aber jetzt, wo ich so ganz ratlos bin wollte ich es doch wagen, mich Ihnen anzuvertrauen, ehe ich der Not gehorchend eine geistestödende [!] Beschäftigung unter Maschinenmenschen annehmen muß. ||

Ich kann mir das garnicht ausdenken. Das kann doch nicht sein! Lieber gleich weg. Wenn ich an solche Zukunft denke, sage ich mir oft, daß der Mensch doch ein Mittel haben müste [!] sich selbst durch chemische Hilfsmittel in so viel als Nichts zu zersetzen, damit er sich ohne viel Ärgerniß u. Aufsehen aus dem Weg räumt. Es ist nicht Feigheit, glauben Sie mir sehr verehrte Exzellenz, was mich so denken läßt, nur das Gefühl, daß ich überflüssig bin, macht mich fast krank. Sie verzeihen mir diese hässlichen Gedanken bitte.

Ein moralischer Untergang, wie es ein stumpfsinniges Maschinenleben für mich sein würde, dieser Gedanke ist zu niederdrückend. ||

Nach allem, was Exzellenz von mir wissen, werden Sie mich verstehen u. meine Verzweiflung begreiflich finden.

Würde ich es sonst wagen mit dieser Bitte zu kommen, die schon lang mein Wunsch ist den ich immer wieder verschweigen wollte, aus Angst, Ihr Mißfallen zu erregen.

Aber die Hoffnung, daß Sie, hochverehrte Exzellenz vielleicht doch raten u. helfen können, mich Ihren Zeilen näher zu bringen u. es mir zu ermöglichen, da etwas zu nützen u. zu helfen, haben mir doch endlich den Mut gegeben, offen zu Ihnen zu sprechen.

Wenn es Ihre so kostbare Zeit erlaubt, schreiben Sie mir bitte einige Zeilen daß Sie mir nicht zürnen. ||

Denn ich weiß, wenn der Brief fort ist, kommen die Vorwürfe, die Angst, Sie zu verlieren. – – – – – – – –

Noch einmal vielen herzlichen Dank für das geliehene Buch. –

Die monistischen Bausteine werden mich nun in freien Stunden hinauf aufs Feld begleiten, wo Kiefern u. Korn so herrlich duften.

Kommt dann die Dämmerung u. der bezaubernde Mondenschein, dann wandere ich erfüllt von all dem Schönen durch die Wiesen u. suche mir die schönsten Blumen aus.

Könnt ich sie Ihnen bringen! –

Da wird es nun wirklich dunkel; auch die schönen Sommertage haben ihr Ende u. das ist gut; denn der Brief ist schon viel zu lang. Verzeihen Sie es bitte. ||

Die letzten Schwälbchen flattern, ganz leis nur tönen Vogelstimmchen wie aus dem Halbschlaf heraus u. – da ist auch schon das erste Sternchen.

Wie schön das alles ist, täglich neu u. schön.

Und da spricht nun Goethe sein kleines süßes Gedicht so recht zu Herzen.

„Der du von dem Himmel bist

Alles Leid u. Schmerzen stillest.

Dem, der doppelt elend ist

Doppelt mit Erquickung füllest.

Ach, ich bin des Treibens müde,

Was soll all der Schmerz u. Lust –

Süßer Friede – komm, o komme in meine Brust.“

Frieden heißt hier wohl Befriedigung. || Möchte Sie endlich kommen in alle ruhelosen, zerstörten Gemüter. Ich bitte nochmals um Verzeihung für das lange Schreiben. Vielleicht haben Exzellenz abends einmal Zeit, es zu lesen. –

Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen bin ich

mit größter Hochachtung

Ihre ganz ergebene

stets dankbare

Maria Luise Nebuschka.

a korr. aus: manchem

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
nach 04.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 24001
ID
24001