Rade, Emil

Emil Rade an Ernst Haeckel, Münster in Westfalen, 30. Dezember 1876

Münster den 30. Dezember 1876.

Hochgeehrter Herr!

Gestatten Sie mir beim Abschluß dieses Jahres, dem ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft und der manches anderen unserer großen Geister zu verdanken habe, Ihnen meine innigsten Glückwünsche zum neuen Jahre darzubringen: möge dasselbe erfüllen, was das alte Ihnen verheißen, möge es neue Keime und Blüthen treiben aus den Beeten, welche Ihr Forschereifer angelegt und die schon blühenden Saaten zu schöner Frucht reifen! Mir aber möge gestattet sein noch recht lange dem hohen Fluge folgen zu können, den Ihr Adlergeist eingeschlagen.

Ich habe nun auch eine neue Bahn betreten, nämlich die philosophische, auf die ich auf eigenthümliche Weise gerathen bin. Dr. Ludwig Noiré in Mainz hat einen von mir herausgegebenen „Katechismus für freie Menschen“ gelesen und danach in mir das Zeug zu einem Philosophen entdeckt und in Folge dessen mich allen Ernstes eingeladen, ihn bei seinem großen Unternehmen des Aufbaus eines neuen philosophischen Systems auf monistischer Grundlage zu unterstützen. Hr. Noiré will die Erkenntnißlehre und Aesthetik bearbeiten, ich soll die monistische Ethik übernehmen.

Er hat mir seine philosophischen Werke zum Studium zuge||sandt, aber je mehr ich mich in diese vertiefe, desto entschiedener stellen sicha meine Ansichten von der Entwickelung von Geist, Willen und Empfindung pp. seinen Annahmen von einem uranfänglichen Willen, von Empfindungs-Causalität selbst in den Aether-Atomen u. s. w. gegenüberb, doch will ich die Möglichkeit nicht bestreiten, daß wir auf dem einen oder anderen Wege doch zusammengehen könnten. Ich muß zunächst meine Ideen über derartige Dinge, um die ich mich bisher wenig bekümmert, weiter verarbeiten, und wenn dies geschehen – darf ich dann auch Sie, mein hochverehrter Gönner, auf dessen Ansichten ich das größte Gewicht lege, einmal um Rath fragen?

Ich höre eben, daß auch Sie in einem Ihrer letzten Werke das Sonderleben einer Seele sollten zugegeben haben; ich werde mir erlauben, sobald ich das betreffende Buch bekomme, Sie gelegentlich weiter darüber zu befragen, da mich derartige Fragen jetzt lebhaft interessiren. Fürchten Sie aber nicht, daß ich Ihre kostbare Zeit allzusehr in Anspruch nehmen werde.

Ich habe veranlaßt, daß Ihnen das Album von Bremen direkt zur Ansicht zugeschickt werde; Sie haben dann die Güte, es mir zukommen zu lassen. Den Entwurf zu dem Anschreiben an Herrn Darwin theile ich nachstehend zur gütigen Beurtheilung mit u. bitte mir denselben mit Ihren Zusätzen oder Umänderungen versehen gelegentlich wieder zukommen zu lassen.

Nochmals herzliche Glückwünsche zum neuen Jahre!

Ihr

Rade

a gestr.: weigere; eingef.: stellen sich; b gestr.: ab; eingef.: gegenüber

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.12.1876
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 22082
ID
22082