Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 15. Februar 1909

Stein. Kreuz 5, Bremen,

15. Febr. 09.

Mein lieber alter Freund!

Wenn man zum vollendeten 75. Lebensjahre gratulieren will, dann muss man sich klar machen, dass man in der Hauptsache nur Postnumerando-Glückwünsche anbringen kann. Für die Zukunft muss man sich mit einem „ach wenn es doch immer so bliebe“ begnügen; möge Dir der jetzige Vorrat von Kräften und Lebensfreude noch lange erhalten bleiben, damit Du das Otium cum dignitate noch wirklich geniessen kannst. Was wir wollen, ist ja doch in erster Linie das Naturgemässe, und naturgemäss muss denn doch, am Schlusse der Laufbahn, der Stürmer, der Prometheus, zurücktreten gegen den beschaulichen Epimetheus. Und dann kannst Du mit Befriedigung zurückblicken und kannst Dir sagen, dass dereinst || die Spur von Deinem Erdenleben nicht so bald a verwischen wird – als nüchterner Naturforscher schwingt man sich nicht so schnell zu „Aeonen“ auf, wie der Dichter. Gleich so vielen Andern habe ich in voriger Woche über Darwin geschrieben und habe mir bei der Gelegenheit die Frage vorgelegt, wie wohl der Entwickelungsgang unserer Anschauungen gewesen sein würde, wenn um 1858 kein Darwin gelebt hätte und wenn damals Wallace der Führer der ganzen Bewegung geworden wäre. Das Endergebnis wäre ohne Zweifel schliesslich dasselbe gewesen, aber wir würden jetzt vielleicht so weit sein, wie 1870 oder höchstens wie 1880. Und zu dieser Beschleunigung des Fortschrittes, zu der Verallgemeinerung der durch die Entwickelungslehre gebotenen Anschauungen in ihremb Zusammenhange mit unserer ganzen Gedankenwelt, hast Du mehr als irgend ein Anderer beigetragen.

Für Freunde, die Interesse dafür zeigten, habe ich einige Deiner Jugendbilder abphotographiert, darunter auch eins von uns vier Wandergenossen in der Wiener Zeit. Allerdings habe ich in meiner Kopie Cowan weggelassen, weil sich || Niemand für ihn interessiert und weil er auch auf dem Bilde nicht gerade vorteilhaft erscheint. Ich finde keinen Abzug meines Bildes mehr, der mich befriedigt, werde aber einige neue Kopien anfertigen und Dir ein Exemplar zuschicken. Zunächst lege ich nur ein kleines Häckel-Bild bei und füge eine von mir gemachte Aufnahme hinzu.

Ich hatte vor einigen Jahren, als ich im Begriff stand, mein Amt niederzulegen, so zahlreiche und verschiedenartige Pläne gemacht, dass ich schließlich nicht wusste, wie ich alle diese Luftschlösser verwirklichen könnte, selbst wenn ich noch 30 Jahre in Kraft und Gesundheit weiter leben c würde. Jetzt habe ich mich entschlossen, eine Rubus-Monographie, an der ich arbeitete, in verkürzter und nicht ganz vollständiger Form zu veröffentlichen, weil ich einsehe, dass mir die Zeit zur wirklichen Vollendung fehlt; es ist notwendig jetzt mit der Arbeit zu schliessen. Und wenn jetzt der Inhalt wesentlich mehr Neues als Lücken aufweisen wird, so ist doch immerhin ein Baustein zur dermaleinstigen Kenntnis der Gattung geliefert.

Vor einigen Tagen habe ich mich einen Augenblick als Dein Kollege gefühlt! Als ich || in Hannover einen botanischen Vortrag gehalten hatte, geriet ich dortd unter Fasching-Feiernde, die mich plötzlich zur „Excellenz“ ernannten, Ezcellenz von Prinz Carnevals Gnaden. – Alter schützt vor Torheit nicht.

Mit Ernst angefangen, mit Scherz geschlossen, sollen Dir diese Zeilen meine herzlichen Grüsse übermitteln. Lass es Dir so wohl ergehen, wie es Jemandem, der die Last von 75 Jahren zu tragen hat, nur ergehen kann. Und wenn auch Fasching eigentlich nichts mehr für unser eins ist, so können wir doch eine ruhige und abgeklärte Heiterkeit geniessen. Ich hoffe, dass Du Dich derselben noch lange erfreuen wirst.

Mit den herzlichsten Grüssen

Dein W. O. Focke.

Wenn Du daran denkst, so bitte ich um einen freundlichen Gruss an meinen hochgeschätzten Landsmann Plate.

a gestr.: schnell; b korr. aus: ihnen; c gestr.: wollte; d eingef.: dort

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
15.02.1909
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1891
ID
1891