Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 30. Oktober 1873

Bremen, 30 Octob. 1873.

Lieber Häckel!

Es freut mich, daß ich einmal wieder einen Anlaß habe, Dir zu schreiben, denn ohne besondere Veranlassungen muß allmälig eine Correspondenz aufhören, wenn man andertweitig reichlich mit Geschäften versehen ist, von denen doch unter allen Umständen nur ein Theil bewältigt werden kann. – Durch Allmers höre ich von Zeit zu Zeit von Dir, Deinem Leben und Reisen; von mir ist äußerlich nicht eben viel zu berichten; die Familie mehrt sich und man thut sein Tagewerk.

Der Anlaß, den ich erwähnte, ist nun Folgender. Ein hiesiger Volksschullehrer, Herr Fr. Brüggemann, der diese Zeilen überbringen oder einsenden wird, ist bestrebt, sich eine akademische Bildung zu erwerben und wird sich zu || diesem Zwecke nach Jena begeben. Er hatte eine Empfehlung für Dich vom Seminardirector Luden, der vor einigen Tagen gestorben ist. Ich hatte Brüggemann schon herzliche Grüße für Dich aufgetragen; da kam er gestern Abend zu mir und bat um einen Brief, da er sich scheue, ein Schreiben von einem Verstorbenen abzugeben.

Dieser Brüggemann hat zwar äußerlich die steifen, eckigen und verlegnen Manieren eines gelehrten Schulmannes, er ist aber ein äußerst fähiger, fleißiger, strebsamer und kenntnißreicher Mensch, der sein Gehalt zu Reisen nach London und Wien u.s.w. verwendet hat. Sehr umfassende Specialkenntnisse besitzt er auf dem Gebiete der zoologischen Systematik; so viel ich weiß, sind es vorzüglich die Vögel und die Käfer, mit denen er sich eingehend beschäftigt hat. Es wird für ihn natürlich jetzt vor allen Dingen darauf ankommen, die Lücken seines autodidaktischen Wissens zu ergänzen, allein nebenher wird er auch sehr empfänglich für An-||regung und Anleitung zu interessanten Specialuntersuchungen sein, die er in späterer Zeit fortführen kann.

Ich habe mein speciellstes Specialfach nun schon seit einer Reihe von Jahren in den Rubus-Formen gefunden, die allein schon sehr viel zu thun geben; fertig würde man mit der Kenntniß der Formen nicht werden, wenn man auch noch hundert Jahre lebte. Drei allgemeine Beobachtungen sind es, die sich mir immer wieder aufdrängen, nämlich erstens die Constanz der Art oder Race, wenn sie sich selbst überlassen, a d.h. von dem Einfluß anderer Rassen frei ist; zweitens die Variabilität und die häufige Kreuzung mancher Rassen, wenn sie zusammen wachsen; drittens die große Variabilität und Accommodationsfähigkeit der gekreuzten Rassen. Diese Beobachtungen haben mich zu der Ansicht geführt, daß klimatische und andere Einflüsse nicht so sehr auf die Umbildung reiner als auf die gekreuzter Rassen einwirken, daß reine, seit vielen Generationen durch Inzucht befestigte Formen || ohne Kreuzung wenig variabel sind, daß dagegen gekreuzte Formen unter dem Einflusse von Boden und Klima leicht und rasch große Umwandlungen erleiden und sich in ihren Charakteren weit über die morphologischen Grenzen der Stammeltern hinaus entwickeln können. Hält man dabei den Gesichtspunkt fest, daß das Zusammenleben verschiedener Rassen nicht nothwendig, sondern nur unter Umständen zu häufigen Kreuzungen führt, so scheint die Vorstellung, nach welcher Rassenkreuzung die wichtigste Ursache der Variabilität und die einzigste der raschen Variabilität ist, sehr wahrscheinlich. Natürlich sind alle Arten oder Haupttypenb von vornherein eben so gut in verschiedenen Rassen wie in verschiedenen Individuen entstanden. – Ganz besonders sprechen die Erfahrungen der Gärtner fürc diese Ansichten; leider sind nur die Gartenbeobachtungen im Einzelnen zu unzuverlässig und gewinnen erst durch ihre massenhafte Häufung an Beweiskraft.

Nun, es ist gut, daß das Papier dem Weiterplaudern ein Ziel setzt; Brüggemann wird mir von Dir erzählen; es denkt Dein und grüßt in alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

a gestr.: ist; b eingef. mit Einfügungszeichen: oder Haupttypen; c korr. aus: führ

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.10.1873
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1849
ID
1849