Jodl, Friedrich

Friedrich Jodl an Ernst Haeckel, Karlsbad, 2. Mai 1903

Karlsbad d. 2. Mai 03.

Hochverehrter Herr College!

Verbindlichsten Dank für die freundliche u. mich auszeichnende Begrüßung, welche Sie mir durch die Übersendung u. Widmung der Volksausgabe Ihrer Welträtsel zu teil werden ließen. Ihr so vornehm u. würdig gehaltenes Nachwort habe ich mit dem größten Interesse gelesen. Eine Haltung wie sie Paulsen gegen Sie eingenommen hat, ist mir ganz unverständlich. Denn für den Unbefangenen sind doch sein a psychophysischer Parallelismus || u. Ihr Panpsychismus nur zwei Spielarten derselben Grundanschauung, vorausgesetzt, daß es nicht Paulsen um gewisse theologische Hintergedanken in erster Linie zu thun ist. In diesem Verdachte habe ich freilich ihn u. den gesammten Neu-Kantianismus, mit seinem sonstb unverständlichenc Festhalten am Ding an sich u. seiner Unerkennbarkeit. Diese ganze Trennung der intelligiblen u. der erfahrbaren Welt ist nur ein asylum d Deorum, die ins Nirgendheim, ins Bodenlose versinken, wenn es nur ein Sein u. eine Welt gibt, die Natur, das Diesseits. || Auch ich bin der Meinung, daß die Zukunft unserer wissenschaftlichen Cultur auf dem engsten Bunde der Naturwissenschaft mit der Geisteswissenschaft beruht, u. daß Philosophie als Weltanschauung nichts anderes sein kann als die begriffliche Synthese der jeweils gewonnenen Gesammterkenntniß. Dafür wird es ja immer verschiedene Richtpunkte geben u. demgemäß werden auch die Constructionen verschieden aussehen; aber wenn nur der Standpunkt der strengen Immanenz von Sein u. Bewußtsein festgehalten wird, so müssen sie sich schließlich alle aufeinander zurück-||führen lassen. Heute wo der Jenseitsglaube in den verschiedensten Gestalten alle Macht aufbietet, um die Geister wieder zu unterjochen, sollten die Verteidiger der natürlichen Weltansicht, statt um kleiner Differenzen willen sich zu zerfleischen, lieber Schulter an Schulter dem gemeinsamen Gegner entgegentreten.

Indem ich Sie bestens begrüße bleibe ich mit dem Ausdruck der größten Hochachtung u. Verehrung

Ihr ergebener

FrJodl.

a gestr.: ph; b eingef.: sonst; c korr. aus: unverständigen; d gestr.: g

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.05.1903
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18441
ID
18441