Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Villefranche sur mer, 2. Juni 1890

Villefranche / sur mer 2.VI.90.

Sehr verehrter Herr Professor!

Seit einigen Wochen habe ich endlich wieder Hoffnung geschöpft, dass meine Reise nicht ganz erfolglos bleiben wird. In der ersten Zeit war mein Muth schon beträchtlich gesunken, als ich, bereits schon 14 Tage an der Arbeit, noch gar keine Aussicht auf Erfolg sah. Meine Stimmung war daher eine ziemlich pessimistische, besonders, da ich meinen Kummer allein mit mir herum tragen musste. Indessen war ich selbst zum Theil nicht Schuld an den Misserfolgen. Einerseits fehlte es mir anfangs sehr an Material, dann aber, als ich an die Untersuchung mit galvanischem Strom ging, || zeigte es sich, dass die Radiolarien demselben mit völliger Nichtachtung gegenüberstanden, wenigstens den Stromstärken, die mir zur Verfügung standen. Ich hatte daher in der ersten Zeit kein Resultat weiter aufzuweisen als das durch operative Versuche gewonnene, dass in der Centralkapsel ebensowenig wie im Kern ein Sitz höherer psychischer Thätigkeit vorhanden ist, sondern dass sich die Radiolarien in dieser Beziehung wie andere Rhizopoden und Infusorien verhalten. Bei diesem geringen Erfolg liess ich denn endlich die galvanische Reizerei liegen und stürzte mich auf die Ctenophoren, die mich gleich vom ersten Augenblick an wegen ihrer wunderbaren Schönheit und Anmuth gefesselt halten. || Die Ctenophoren bieten für meinen Geschmack einen der grössten optischen Genüsse in jeder Beziehung. Der wundervoll zarte Körper, die gewandten Bewegungen, das Spiel der Plättchen, das Leuchten bei Reizung des Nachts, alles dies fesselte mich so, dass ich anfangs mich nicht entschliessen konnte, diese herrlichen Thiere durch rohe Operationen zu verstümmeln. Die pelagischen Thiere sind doch die schönsten, die ich bis jetzt kennen gelernt habe. Meine Versuche an Beroë, Enchoris und Cestus sind nun endlich auch erfolgreich gewesen, wenigstens habe ich einige Resultate erzielt, die physiologisch von allgemeinerem Interesse sein dürften, besonders über die Flimmerbewegung, für welche die Ctenophoren, die überhaupt phsysiologisch in jeder Hinsicht geradezu ideale Objecte || sind. Soweit die Wissenschaft.

Im übrigen lebe ich hier sehr eingezogen, da absolut kein Verkehr hier ist. In dieser Woche kam endlich Korotneff. Bis dahin war ich allein im Institut und vereinigte alle Würden in mir, denn ich hatte alle Schlüssel etc, (sogar zur Alkoholkammer!) in Haenden. In Bezug auf Comfort muss man in Villafranca mehr wie wenig Ansprüche machen. Ausser gutem Cognac und Spargel bekommt man nur noch Fleisch von der Sorte, wie es im Berliner Zool. Garten den Löwen vorgesetzt wird. Dafür entschädigt einen die herrliche Gegend. Das beiliegende Aquarell, an dem ich übrigens wegen meiner jahrelang nicht geübten Kunst und mangelnden Farben keine strenge Kritik zu üben bitte, zeigt einen schwachen a Abglanz von dem Anblick, den ich abendlich geniesse, wenn ich, Probleme machend auf dem Sofa liege. Nur aber herzliches Lebewohl!

Bitte grüssen Sie Prof. Kükenthal, Müller, Fürbringer, Biedermann, Stahl und seien Sie selbst vielmals gegrüsst von Ihrem treuen Max Verworn.

Wo werden Sie diesen Sommer hingehen?b

a gestr.: Anblick; b Text weiter am oberen Rand von S. 4: Wo … hingehen?

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.06.1890
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17379
ID
17379