Anonym

Anonym an Ernst Haeckel, Köln, 1. August 1878

Köln 1. August 78.

Sehr geehrter Herr!

Da nicht nur Inductions-, sondern auch andere Schlüsse umso sicherer sind, auf je breitrer Grundlage, d.h. auf je mehr Thatsachen sie beruhen, Ist Ihnen zur Beurtheilung des Standpunktes, den H. Virchow jetzta einnimmt, oder schon länger einnimmt, vielleicht die Kenntnißb folgender Thatsache angenehm.

Der Schreiber D., ein der Welt unbekannter Laie, traf im Sommer 1871. oder 72. in Kreuznach mit dem Dichter Fr. Bodenstädt – der inzwischen durch Anpassung an den monde ambiant des Koburger Hofes in Fr. von B. variirt ist – zusammen, und führte mit ihm ein Gespräch über Schopenhauers Philosophie, aus welcher der Übergang zur Discussion des Monismus sich dann von selbst ergab. Als Bodenst. sich schließlich in die Enge getrieben sah, fragte er || in Ermangelung eines Argumentes:

„Geben Sie etwas auf Virchow’s Urtheil?“

„ „Alles!“ “

„Nun, selbst Virchow hat mir eingestanden: Zuweilen brauchen wir den lieben Gott doch.“

Das war, wie gesagt, schon 71. oder 72.!c

Nun, wenn ich auch zugeben will, daß ein Monist die Existenz einer Schöpferkraft statuiren könnte, der die Elemente mit ihren Eigenschaften, also die Naturgesetze ihr Dasein verdanken – denn superflua non nocent –, so behaupte ich doch, daß Jemand, der „den lieben Gott“, also in diesem Fall doch den persönlichend Christengott, braucht also anerkennt, kein Monist sein kann.

Im Übrigen, geehrter Herr, erlauben Sie mir vielleicht eine, nennen wir’s: Hypothese.

Ich lege den Satz Virchows

Wenn wir Anziehung etc. psychische Eigenschaften nennen, so werfen wir einfach die Psyche zum Fenster hinaus etc. ||

dahin aus, daß er damit sagt:

Wenn wir Anziehung etc. psychische Eigenschaften nennen, so erkennen wir keine Seele mehr an! Und ein offeneres Eingeständniß seines Dualismus, sollte ich meinen, könnte man nicht verlangen!

Und zum Schluß noch eine Frage:

Sollte nicht eine neuliche Notiz, die ich bisher nur in einem Winkel der Kölnischen Zeitung gefunden habe, daß nämlich im Monde ein neuer Krater sich gebildet hat, die alte Theorie der Bildung der Planeten etc, wonach sie auf dem Wege des Erkaltens sind, und speciell der Mond bereits erkaltet ist und dem Ende seiner Privat-Existenz sich naht, endgültig in die Luft sprengen, und den betreffenden Wissenschaften die Umkehr gebieten, wenn auch nicht im Stahlschen Sinn? Sollte nicht dadurch Radenhausen’s Theorie (im Osiris) dadurch vollständig bewiesen, und damit auch seine weitere Lehre, wonach die fortschreitende Erwärmung der Erde dieselbe und || Alles auf ihr lebensfähiger macht, und welche also den faktisch bereits anerkannten Fortschritt alles Irdischen mechanisch erklärt, bewahrheitet sein?

Freilich ist dann Darwin’s Theorie nicht mehr die wichtigste Stütze des Transformismus, aber immer doch noch ein unentbehrlicher Theil wieder der Radenhausenschen Theorie. Und Darwin wird dann nicht kleiner, sowenig der Chimborazo kleiner geworden ist dadurch, daß wir wissen, daß er nicht der allerhöchste Berg ist. – Ich glaube, daß Radenhausen’s Name in, sage 10 Jahrene so vielen Leuten bekannt sein und von so vielen gepriesen werden wird, als er heut noch unbekannt ist, und Ernst Häckel wird nicht zu den Letzten gehören!

Mein, wie schon gesagt, in der Wissenschaft ganzf unbekannter Name thut nicht zur Sache. Ich unterzeichne mich deßhalb als

ein in der Wolle gefärbter Monist, der den Monismus nur deßhalb nicht beschwört, weil in demselben der Schwur keine Stelle hat.

H. R.

a eingef.: jetzt; b eingef.: die Kenntniß; c eingef.: Das war … oder 72.!; d eingef.: persönlichen; e eingef.: in, sage 10 Jahren; f eingef.: in der Wissenschaft ganz

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.08.1878
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 17043
ID
17043