Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Halle, 19. Oktober 1854

Halle d. 19/10 54.

Mein lieber guter Häckel!

Wie aus einem Traum aufgewacht, komme ich mir vor, da ich jetzt an Dich schreibe. Denn solch eine lange Pause hat in unserm Briefwechsel noch kaum existirt. Und wie viel lieber spräche ich jetzt mit Dir, statt zu schreiben; soviel hat sich in mir verändert, was sich brieflich schlecht mittheilen läßt, u. wenn auch mittheilen, so doch nicht a dem Andern ganz klarmachen. Nun die mündliche Unterhaltung müssen wir ja wohl noch ½ Jahr aufschieben; aber dann desto mehr? – hoffe ich –. Wie freue ich mich schon darauf! Denn hoffentlich werde ich ja wohl Ostern Berlin beziehen können u. dürfen, und Du, lieber alter Junge, – gehst doch nicht wieder nach Würzburg? – Ich wünschte Dir lieber ein „philosophicum“ zu Michaelis 55 über den Hals als Würzburg, dieses alte baiersche bäuersche (?)b Nest. Doch Du sagst vielleicht: „Der schwatzt wie der Blinde von der Farbe.“ Drum wollen wir auch lieber zu einem andern Thema übergehen.

Was ich Dir vorhin von einem Traume schrieb, verstehst Du vielleicht nicht ganz, u. es läßt sich auch schriftlich das Gefühl, was mich jetzt beherrscht, nicht klar machen. Nur kurz die || Thatsachen. Das vergangene Semester (das Adjectivum soll leben) hat mich zwar nicht in Traum und Schlaf gewiegt, doch beinah in einen gehörigen Dusel gebracht, der entschieden vom Träumen nicht weit entfernt war. – Was früher die Pennalia allzu wenig darbot, das hatte sich hier überhäuft, u. so hatte ich denn schließlich wieder wenig profitirt. Du weißt, wie ich mich mit Collegiis überladen hatte; es nutzt nichts – u. ich hoffe, daß Du, der Du auch so ’ne sonderbare Neigung mitunter zu haben scheinst, ebenfalls davon zurückgekommen bist. Doch zu mir zurück, mit Deiner Erlaubniß. Ich muß da, um in der Ordnung zu verfahren, Manches wiederholen, was ich Dir früher schon schrieb; nun, vielleicht verzeihst Du mein Geschwätz. – Also Du weißt, daß ich vergangnes Semester die fixe Idee gefaßt hatte, der organischen Natur, d. h. deren Studium mehr u. mehr zu entsagen u. mich der anorganischen zuzuwenden. Ich nahm deshalb hauptsächlich Mineralogie u. Verwandte an, quälte mich ehrlich dabei herum und profitirte dennoch dabei wenig. Es hatte eigentlich nur zur Folge, daß mir die liebe organische Welt immer fremder wurde, ohne daß ich dafür einen Ersatz hatte. Ich will Dir nicht das Gefühl beschreiben, das in jener Zeit mehr u. mehr zunahm; Du kannst Dir denken, daß ich damals an periodischem Katzenjammer (der edle, glückliche Fuchs!) litt; ich kann Dir auch nicht beschreiben, wie traurig mich die Blumen u. Pflanzen fortwährend ansahen, wenn ich einmal spatzieren [!] ging u. dabei mir einbildete, noch zu botanisiren wie früher, während mir doch ganz andre Dinge wüst durch den Kopf gingen. || Ich that dies daher vielleicht eben aus diesem Grunde nur ungern u. selten, habe auch dieses Jahr so gut wie nichts vor mich gebracht, in Betreff des Herbariums. Doch genug; dies ging so fort, bis zu dem sehnsüchtig gewünschten Schluß des Semesters. Nun kamen die Ferien, mit ihr die Aussicht auf eine Reise, u. diese selbst. Der Harz hat mich wirklich wieder restaurirt u. hergestellt, c d. h. er hat mich nicht gemacht wie ich früher war, zu einem neugebornen leidenschaftlichen Botanikus, resp. Heusammler; – Gott sei Dank, daß es schon Herbst war und der Harz an u. für sich wenig botanisches Interesse bietet. Dennoch sahen mich auch hier die lieben Pflanzen traurig genug an; doch es war nicht mehr zu ändern; ich hatte (nach langem Schwanken) kein Papier oder dergleichen, worin ich sie hätte sammeln können, mitgenommen; ich besah sie mir blos. Dank dem ungemeinen geologischen Interesse, das der Harz hat; sonst würde ich eine traurige Erholungsreise gethan haben! Was dieses betrifft, so habe ich gar keine großen Fortschritte gemacht; allein, ich habe doch hier erst den Anfang machen lernen. Und dazu die schönen Berge, das herrliche Bodethal; – ich war zum zweiten Male ganz erstaunt –; wahrlich, man braucht an solchen Punkten keinen Nebenzweck zu verfolgen. Wie man derartige Reisen ohne das genießen kann, habe ich dies mal gelernt. Dennoch, das Bodethal mit seinem wundervollen Parthien abgerechnet, halte ich das Riesengebirge für schöner, – mit höhern Bergen kann man leider (vielleicht glücklicher Weise) keinen Vergleich anstellen. Dennoch habe ich auch hier eine gewiss interessante botanische Entdeckung gemacht; wenigstens freute mich das Pflänzchen, ein alter Bekannter ungemein, u. ich habe einige Exemplare mitgenommen, obgleich es verblüht war. Nämlich zwischen den Steinen der Hexentreppe, die vom Hexentanzplatz nach der Boded || herunter führt, sowie auch (noch merkwürdiger) am Bruch des rothen Marmors bei Rübeland fand ich Saxifraga muscoïdes Wulfen! jene liebenswürdigee Bekannte aus der Schneegrube des Riesengebirges!!! – f – – – – – – – Leider mache ich soeben noch eine Entdeckung: nämlich, daß muscoïdes wahrscheinlich caespitosa sein wird; ich kann die Exemplare jetzt nicht finden, um mich zu überzeugen. Nun so fahre wohl, Du letzte süße Einbildung! Sei verbannt u. komme mir nie wieder ins Gedächtniß! Punktum.

Meine Tour brauche ich Dir wohl kaum anzugeben; sie geht etwas weiter, als wir dunnemals mit Gandtner (à propos was mag der machen?) den Harz bereisten. Sie geht um den ganzen Harz herum, von Eisleben oder Mannsfeld bis zum Brocken in nordwestlicher Richtung, (die steinerne Rinne, harten u. nassen Angedenkens, sowie auch den Ilsenstein traurigen Angedenkens habe ich wieder besucht) dann bis Goslar in der Richtung fort, nun durch den nördlichen Theil über Clausthal, Andreasberg quer durch (etwas öde u. rauh) u. am südlichen Rande zurück. Auf der Rückreise habe ich noch die Rothenburg u. den Kyffhäuser besucht. Du wirst, denke ich, an dieser kargen Angabe genug haben; denn diesmal kann ich sie unmöglich durch uninteressanteg Bemerkungen botanischen Inhalts fetter machen; weil sie eben fehlen u. mir der erste Versuch so arg mißglückt ist. – Wir wollen daher lieber zu unserem „Beitrag zurd Entwicklungsgeschichte eines menschlichen Geistes“ zurückkehren; und wollen uns dabei kurz fassen; denn erstens will Weber den Brief bald zur Post tragen u. zweitens bin ich jetzt sehr ökonomisch gesinnt u. will daher nur noch höchstens ¼ Bogen dran spendiren. ||

Vom Harz zurückgekehrt, beabsichtigte ich erst, Dir einen Brief nach Helgoland zu schicken (Du bist doch hoffentlich nicht in den dortigen Dünen versunken? ) – ich schreibe dies, damit Du doch den guten Willen siehst –, allein ein paar Tage oder Wochen in Schkeuditz, wo ich viel zu thun hatte, um diei geologischen Verhältnisse des Harzes zu verdauen u. daneben meine begonnene Mineralien-Sammlung, die ich aus dem Harz mitgebracht, zu ordnen, dann wieder ein paar Tage in Merseburg, abermals in Schkeuditz, in Eilenburg u. schließlich nochmals in Schkeuditz; dazu ein Geschenk meines Onkels: „Mineralogie von Quenstedt“, das ich dazwischen studirte, auch eine „analytische Geometrie“, die ich anfing durchzumachen, – dies Alles, siehst Du, giebt wohl hinreichende Erklärung (wenn auch nicht Entschuldigung), wie die Zeit auch ohne Briefschreiben vergehen konnte. Es ist hierin zugleich angedeutet, wie die vom Harz angebahnte Gesundung meines traurigen Innern in den Ferien die rechte Nachkur fand. Denn das (wenn schon leider beschwerliche) Studium des bewußten Quenstedt, der mitunter sehr unklar ist oder doch sich ausdrückt, hat mich doch auf den rechten Weg gebracht, wie man den interessantesten Theil der Mineralogie, die Krystallographie, angreifen muß, u. hat mir nun wirklich ein neues Ziel für die frühere Leere gegeben. Du siehst, es hat sich bei mir rasch die entschiedene Neigung zur unorganischen Natur heraus gestellt, u. es ist daher nur gut, daß ich das akademische Leben u. Studium so begonnen habe, wie Du weißt. – Jetzt bin ich wieder ruhig, schwanke weniger, u. – werde faul. Denn bis jetzt habe ich nur 2 Collegia (Experimentelle Chemie u. Laboratorium) angenommen, u. es wird auch nicht viel hinzukommen. Ich will das Semester einmal genießen. ||

Nun wären wir denn bis zur gegenwärtigen Zeit angelangt, u. wir dürften wohl dies Thema schließen.

So sehr als ich die Zweckmäßigkeit einsehe, daß ich gerade als Mathematiker immatrikulirt bin, so gut ist es auch für Dich gewesen, daß Du Medicin zu studiren gezwungen bist. Dies sehe ich jetzt vollkommen ein. Die wundervolle organische Welt paßt freilich mehr für Dich als für mich; ich würde es nie weit darin bringen. Und daß wir Beide hierin – jetzt mehr als früher – auseinandergehen, das soll unsere Freundschaft, meine ich, nicht im Geringsten stören, sowie den Austausch unserer Gedanken eher befördern. Schreib mir also bald einmal, schreib mir von Helgoland, von Berlin, Deinen Plänen, Aussichten etc. etc.; ich werde ebenso fortfahren, Dir zu erzählen. Jetzt bin ich leider genöthigt, Abschied von Dir zu nehmen, da es schon spät ist, Weber wartet, u. Besuche kommen. Also leb wohl.

Dein treuer alter Freund

Weiß.

Halle, Gartengasse 1379.

a gestr.: xxx recht; b eingefügt: bäuersche (?), c gestr.: wenn; d am linken Rand mit geschweifter Klammer zusammengefasst: eine gewiß … der Bode, mit Anmerkung: Bitte, Dir die Augen nicht daran zu verderben.; e eingef.: liebenswürdige; f ein Satz unleserlich gestr.; g eingef. un-; h eingefügt: Beitrag zur; i korr. aus: xxx

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
19.10.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16636
ID
16636