Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 15. – 22. Juni 1854

Halle den 15/6 54

Jägerplatz 1074

Mein lieber Ernst!

Es dürfte denn wohl an der Zeit sein, daß ich einmal etwas von mir hören ließe, da es schon lange her ist u. wir uns nicht mehr recht darauf besinnen können, wann mein letzter Dir geltender Brief geschrieben wurde; allein es geht mit der Zeit zum Briefschreiben wie mit dem Gelde, zu großen Ausgaben hat mans oft eher als zu kleinen u. wenn ich soviel Briefe wirklich geschrieben hätte, als wieviel nach ich den Ansatz dazu (corpore & animo) gemacht habe, so hätten wir beide uns schon arm an Porto gegeben. Es giebt bei mir zuweilen Augenblicke, Stunden, Tage Wochen an denen ich durchaus nicht im Stande bin von einem Briefe mehr als die Überschrift zu schreiben, man zu andern Stunden a die ganze Welt b anschreiben könnte darum, durch allerlei Hoch’s, Lieder der Liedertafel u. verschiedene Nachtigallen herüberschallende, C16H10N4O4 u. Anderes enthaltende Getränke in einen geistig potenzirteren, electrischeren (Geist ist ja doch nichts anderes als einec Function der Gehirnbatterie!) Zustand versetzt, benutze ich den Augenblick u. halte ihn fest, obgleich es eben 10 Uhr Abends schlug u. der Mond aufgegangen ist, benutze ich, um Dir in Folgendem das aus meinem Herzen auszuschütten u. mitzutheilen, was es seit Mitte der Ferien angefüllt, bewegt u. bewogen hat, falls Du noch Athem hast! ||

Daß ich nach den Osterfeiertagen nicht nach Merseburg kam, um mit Dir Tage zu verleben nach u. über die ich mich jedesmal ein Vierteljahr vorher und nachher sehne u. freue, mochte allerdings verwunderlich erscheinen. Indeß des Menschen Wille ist oft des Menschen Himmelreich sowie ebenderselbe Wille vulgo Trotz zuweilen stärker ist als das Fleisch u. andere Willen. Warum heckt denn Weiß solchen idyllischen Plan aus mit Naumburg fahren u. Allem Henker, dieser (der Plan nehmlich) ist allein daran schuld. Ich konnte mir zwar nicht gut denken, daß Du die Feiertage von Ziegenrück trennen würdest, wollte aber nicht gegen den Plan reclamiren, da ich nicht wußte wo Weiß sich aufhielt u. es außerdem vielleicht nur Irrungen hervorgerufen hätte. Wie also verabredet, ging ich den ersten Osterfeiertag von Hause fort nach Merseburg, wo ich zu meinem nicht geringen Staunen den Weiß noch nicht angekommen u. Hetzer nicht zu Hause fand, ging deshalb weil ich vermuthete daß diese schon nach Naumburg abgefahren wären bei jedem Zuge an den Bahnhof um andern Falls vielleicht auch den Kleinen zu empfangen. Unter mehrfachem schauderhaften Wetter verging dieser Tag u. der folgende wiederholte dasselbe Schauspiel. Kein Weiß kam von Schkeuditz oder Eilenburg, u. kein Häckel und Weiß und Hetzer von Naumburg. Dies empörte mich u. brachte sehr stürmische Wellenbewegungen in meinem Blute hervor, so daß ich am 3ten Tage nach Hause wieder abging u. an selbigem Tage bist Du, wie ich nicht, gekommen. Zwar bekam ich noch rechtzeitig Nachricht von Deiner Ankunft aber schon wieder nach Merseburg laufen || nach solchen Täuschungen, das ging nicht, u. wenn der Wagen vor der Thür gehalten hätte. Dies mag vielleicht etwas an den Fuchs mit der Traubed erinnern aber wer kanns ändern, u. nur der Unwille meines Vaters der mich der Undankbarkeit gegen Dich zieh, hätte meinen Starrsinn beugen können. – Es werden ja hoffentlich wieder Tage kommen, wo wir besonnener sind.

Da Du im Brief an Weiß einen so langen u. ausführlichen Stundenplan gegeben hast, wirst Du vielleicht einen gleichen auch von mir verlangen, allein Du wirst Dich gewaltig verwundern, wenn ichs mit ein paar Worten abmachen kann: 8–9 Physik, 12–1 Mineralogie (niederträchtige Stunde, entweder Mittagsschlafssehnsucht hervorrufend oder Magenmusik e jenachdem man vor oder nach derselben einheizt). Denn an 3 Tagen von 6–7 analytische Geometrie u. nur noch 2 Stunden publica: Das war Alles! immer genug für ein Haus das im alten Register steht, wenn Du vielleicht schon daran gedacht hast; ich hätte beim besten Willen nichts weiter hören können, wegen der Stereotypie u. Langweiligkeit die hier in der Auswahl der Collegien Sitte ist. Doch die Sache wird sich im nächsten Semester bedeutend ändern da ich anfangen werde repetendo zu hören. Aus den obenangeführten wirst aber nicht auf Faulenzerei schließen, es wird gearbeitet den ganzen Tag. So habe ich, es wird mir bei diesem Gedanken sauwohl, es endlich soweit gebracht, daß meine sämtlichen Pflanzen wenigstens in vorschriftsmäßigem Papiere liegen, wo f vorher die Hälfte in schwarzem Papier war.

Ferner sind die passenden Familien: Dolden, Composite, Gräser, in das neue große Format gebracht, in den Ferien habe ich ½100 Zettel geschrieben, so daß es auch in dieser Hinsicht bald nicht mangeln wird. || Durch dieses Zerkleinerungssystem in besondere Familien gewinnt das Zurechtfinden ungemein daher es jetzt keine Mühe erfordert eine neugepresste Pflanze einzureihen. Von Excursionen habe ich Dir jedoch herzlich wenig zu berichten. es ist dies Jahr das Wetter zu unbeständig, dann vor Alles noch sehr zurück, und dann war man noch nicht daran gewöhnt Excursionen wieder machen zu können u. dann ist meine Trommel unbrauchbar geworden. Doch hat uns die eine nach Dölau ein nicht zu verachtendes Ding eingebracht: Carex Buxbaumii wovon der Kleine Dir wohl mitgetheilt haben wird.

Am 9/6 war Generalversammlung des Naturwissenschaftlichen Vereins in Jena, u. ich als Mitglied natürlich befugt diese mitzubesuchen, aber erstlich ist von mir g bis Jena ein weiter Weg u. 2tens war so schreckliches Wetter u. 3tens ist die Theilnahme für dergleichen unter den jüngeren Mitgliedern (Studenten) eine sehr geringe, (wie ich überhaupt deren Verbleiben im Verein, was doch noch Geld kostet, nicht begreifen kann) u. unter lauter alten Hähnen die einzige Jünglingsseele zu sein, ist ein zu langweiliger Gedanke.

Vom großen Gercke erscheint jetzt bereits die 3te Auflage; man möchte sich gar keine Bücher wenigstens keine naturwissenschaftlichen anschaffen, denn kaum h eingebunden, sind sie schon veraltet, daher ich i mir auch noch keine Physik angeschafft habe, so sehr ich mir wünsche, weil diese in meiner Bibliothek noch gar nicht vertreten ist.

Was übrigens Gerard unsern neuen Mineralogen anbetrifft, so ist das ein ganz famoser Kerl, der selbst mir, der ich durchaus kein Freund der Mineralogie war, die Sache interessant gemacht hat. ||

den 22/6 Abends ¾ 11 Uhr

Vorliegender Brief sollte eigentlich erst die Einleitung zu j dem wirklichen 9bändigen Briefe sein, indessen da die menschlichen Schicksale sich manchmal sonderbar fügen und verknüpfen ut ait Frahnert; [!] so bin ich gewissermaaßen gezwungen hiermit abzubrechen u. das folgende als neue Plage herauszugeben. Der Brief wäre schon viel weiter gediehen gewesen, hätte ich nicht in diesen Tagen eines bevorstehenden Stipendienexamens willen meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf andere Dinge wenden müssen, darum so mußt Du fürlieb nehmen, mit dem was mir die Kürze der zugemessenen Zeit erlaubt aufs Papier zu setzen. Ich habe heute schon 2 Briefe geschrieben u. abgesandt, Alles binnen 2er Stunden und 2 empfangen. Darunter auch den Deinigen. Nun es ist Allerdings sehr aufopfernd von Dir, schon wieder einen Bogen an uns, vorzüglich mich, faulen Hunde abgehen zu lassen dafür meinen Dank u. Dank auch vor Allem großen und vielen und aufrichtigen Dank für den Inhalt des vorigen Briefs an Weiß. Man dergleichen Allerdings zuweilen ganz gemütlich gebrauchen zu mal wenn es Einem so à la gebratene Taube in den Schnabel fliegt. Ich stehe jetzt im 5ten Semester (horribile dictu) u. habe es Dank meines vielen Bittschreibens, Portoausgebens, Testimonialschreibens u. dergleichen so weit gebracht, daß ich den selben Freitisch habe just so viel als im ersten Semester u. 40 rhl || wovon sofort 36 auf Miethe Feuerwerk und Wasser abgehen. Doch stehend gehungert ist besser als kriechend geschwelgt. übrigens ob ich 1 d oder 1 rhl im Beutel habe ist mir total egal, Sein und Nichtsein ist ja identisch u. für den d trinke ich deshalb ganz ruhig meinen Kaffee oder Toppchen Mittags, nachdem ich mir noch 14 dazu gepumpt habe. So weit ists gekommen. Neulich verschlug mich auch eines der jetzt so häufigen Gewitter nach der großherzoglichen Residenzstadt Altenburg, es war auch so eine Bettel Geschäftsreise wollt ich sagen. Doch habe ich dort die Bekanntschaft eines ganz vernünftigen Mannes gemacht u. hätte möglicherweise vielleicht gar noch Ehrenmitglied der naturwissenschaftlichen Gesellschaft fürs Osterland werden können.

Wenn Du vielleicht später die Stelle eines javanischen, oder borneoschen oder tropisch inseligen Moskitoträgers, Stiefelputzers, Geburtshelferskassistenten zu vergeben hast, so bitte ich unterzeichnetes reisemaniesüchtiges Subject zu berücksichtigen. Es soll kein so ungeschickter (im ersteren natürlich) Kerl sein. Eigentlich hatte ich mir nun vorgenommen diesen Sommer l von meiner großen Constanipolitanischen [!] Reise (was lachst Du) zurückkehrend über Salzburg, Watzmann, Chiemsee, München, Bavaria Industrie u. Kunstausstellung, Pinakothek und Glyptothek u. wie die Theken alle heißen mögen m in Würzburg ein Absteigequartier zu nehmen, da geht der Unflat fort nach || Berlin. Deshalb bleibts aber doch dabei.

Der kleine Weiß um dies hier gleich einzufügen läßt Dir sagen daß ihn zwar die Kürze hindere zu schreiben, daß er aber dessenungeachtet nicht unterlassen hätte verschiedene male an Dich zu denken u. er überhaupt am öftersten geschrieben hätte, worin er vielleicht Recht haben mag. Im Winter übrigens hätte ich übrigens trotz des besten Willens nicht schreiben können weil ich eben nicht schreiben konnte, da ich eine steife Hand hatte. Übrigens bitte ich Dich, Deine Briefe nicht gleich mit so staatsgefährlichen Reden anzufangen, da das Denunziren jetzt nicht mehr bezahlt wird und da man es also ohne Gewissensbisse thun kann, übrigens dadurch auch 2 n ehrliche Menschen u. noch ein 3ter ins Unglück gebracht werden können. Da ich durchaus jetzt die deutsche und preußische Politik im höchsten Grade billige, sie müßte nur noch etwas westmachtfeindloser sein. Vorvorgesterno haben wir den Jahrestag der Schlacht bei Bellealliance gehabt. Doch darüber im eigentlichen Briefe, nur soviel daß die Zeitungen zum Sterben langweilig sind.

Der Fremdling den Du mir heute geschickt hast, hat mir sehr gefallen der junge Mann stimmt in vielen Ansichten mit mir überein; er freute sich übrigens ungemein, p als er sah daß hier wenigstens q die Anfänge zu Hügeln Felsen u. Wäldern und Grünem sind, man den Berliner Sand mit seiner Flachigkeit 10 Klafters unter die Erde verwünscht. Ich habe ihm da ich, natürlich nichts ahnend, erst gegen 6 nach Hause kam, die ersten hallischen Herrlichkeiten gezeigt u. ihn dann zum Kleinen || geführt wo noch einige Stunden verplaudert wurden.

Da es eben ½12 schlug und eben in meinem Gehirnkasten eine Pause entstand die nichts Neues schaffen konnte, so werde ich mich eben lang strecken so weit es mein Bett erlaubt, es ist ein Elend wenn man nicht weiß wo man sein Haupt hinlegen soll, denn überall stößt man sich.

Alles Übrige was ich noch auf dem Herzen habe und was nicht wenig zu sein scheint werde ich mir für den spätern Brief aufsparen. Bis dahin bleibe ich Dein treuer u. immer noch der alte nunmehr nehmlich (heute) 21jähriger

V. Weber stud.

Daß Hetzer nicht mehr mein Nachbar ist sondern Geiststraße wohnt, weißt Du vielleicht schon.

a gestr.: an; b gestr.: Briefe; c gestr.: n; d gestr.: ändern; e gestr.: hervor; f gestr.: erst; g gestr.: zu; h gestr.: sind; i gestr.: mich; j gestr.: nenn; k gestr.: lehr; l gestr.: auf; m gestr.: nach; n gestr.: erh; o gestr.: Vorgestern; p gestr.: während; q gestr. zu

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.06.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16216
ID
16216