Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 15. März 1857

Halle den 15ten März 1857

Mein liebster Ernst!

− Ich schreibe nicht, Du schreibst, Er schreibt nicht, Wir schreiben nicht: es ist wirklich, als ob jeder in einem Welttheile für sich lebte, und die Wege verschneit und die Lokomotiven, oder die Freundschaft selbst mit eingefroren wären, und doch ist, wenigstens in Halle, schon seit Monaten Frühling. Zwar werdet Ihr von mir mit demselben Rechte Briefe verlangen, wie ich von Euch, doch genauere Untersuchungen haben gelehrt, daß dieses Recht auf meiner Seite überwiegender ist, als auf der andern. Denn a Ihr habt weder selbst schriftliche Arbeiten zu liefern, noch andrer Leute Zeug zu corrigiren, welch’ letzteres Vergnügen ich alle 14 Tage habe. In der That ist mein ganzes Thun und Denken nur auf den einen Punkt, meine mathematische Arbeit, gerichtet: spazieren gehend, wachend oder schlafend: immer das ewige Einerlei c+γ, c-γ, dr/dt, dp/dt cos p. Das sind nehmlichb die einzigen Elemente, aus denen sich die Arbeit zusammensetzt. Es ist vor einigen Tagen hier ein Theolog im Colleg verrückt geworden, wahrlich, nach den Reminiscenzen, die ich noch aus der Psychologie habe, ich werde mich am wenigsten wundern, wenn dieser Fall auch bei einem Mathematiker einträte; zumal wenn ich bedenke, daß trotzdem ich seit Januar nicht um einen Buchstaben weiter gelangt bin. Die Arbeit ist jetzt 8 Bogen stark und doch ist dies nur die Hälfte. In Folge dessen bin ich seit Kurzem in einem Gemüthszustande nicht erfreulicher Art; der, wenn man will, nichts anderes ist als ein Katzenjammer oder auch eine Art Heimweh, nur daß die Heimath, nach welcher diese Sehnsucht gerichtet ist, selbst || in den Lüften schwebt nur muß sie außerhalb Halle u. Merseburg liegen. Das läßt sich aber wieder nur erreichen durch das überstandene Examen. So bildet dies das α und ω aller Wünsche. Quälend wie ein Traum, in welchem man verfolgt zwar das Ziel dicht vor sich hat, aber Blei an den Füßen c hängt. Die wenigen Freunde, die ich in Jahren mit vieler Mühe erworben habe, hat der Wind zerstreut, und so d stehe ich da wie ein Eingewanderter oder vielmehr wie ein bei der Auswanderung Zurückgelassener, ein Fremdling in der eignen Heimath. Ich habe bisher öfters die Einsamkeit mehr gesucht als gemieden, jetzt leide ich an den Folgen und sie wird mir zur Qual. Es wäre mir deshalb ein Brief von Dir oder dem kleinen Weiß etwas sehr Erfreuliches gewesen; auch der Hetzer läßt sich so selten blicken, wie ein Goldkorn in der Saale. Welche Energie ich dagegen entwickelt habe, wirst Du erstlich hieran und zweitens daran ermessen, daß ich in einer Woche zwei Briefe, welche seit Semestern auf dem Herzen lagen, ausgefertigt habe, einen für meinen Verleger, den andern für Gandtner, dem ich nebst einem langen Briefe ein Exemplar zugesandt habe. Ich bin begierig, ob er mir darauf antworten wird. Übrigens kann ich Dir die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß nach Äußerungen des Verlegers mein Buch guten Absatz findet. Ich habe erst vor kurzem den ersten Blick hineingeworfen, bin aber zurückgeschreckt vor der unglaublichen Menge von Druckfehlern, während ich doch meine mit Gründlichkeit corrigirt zu haben. Hätte nicht geglaubt eine so undeutliche Hand zu schreiben. Auch der Stil läßt, weil ich meistens sofort ins Reine schrieb, noch manches Abfeilen u. Runden zu. Aller Anfang ist schwer!

Vor einigen Wochen überraschte mich des Abends ein Rufen meines Namens, mit der Bitte um Licht, es e erschien und heraufkam Compter geradeswegs aus dem Examen kommend, das f jedoch || sehr wenig glänzend gewesen war. Der junge Mann war mit einem außerordentlichen Leichtsinn ohne Präparation hineingegangen u. hatte natürlich den g sonst schon schwer zu befriedigenden h Anforderungen Heine’s nicht genügt. – Als etwas andres, das vielleicht Interesse für Dich hat, könnte ich Dir noch mittheilen, daß sich unsere i medicinische Facultät bedeutend zu regeneriren anfängt. Seit 3 Jahren haben sich schon 3 Privatdocenten (Perniçe, Schweigger, Löwenhardt (Irrenhäusler)) u. schon wieder stehen zwei im Begriffe es zu thun, Heidenhayn oder Haydenheim, ein hochgelehrter junger Mann, den Du vielleicht auch kennst, da er längere Zeit (letzlich) in Würzburg gewesen ist, und Volkmann filius. –

Ich weiß nicht, ob Hetzer Euch oder wenigstens Weißen etwas über die Merseburger Verhältnisse geschrieben hat, meine Nachrichten sind zwar ziemlich alt, j da ich seit Weihnacht nicht dort gewesen bin, doch glaube ich soviel behaupten zu können, daß sich Niemand gedrückter fühlt als Osterwald, einmal wegen getäuschter Hoffnungen, sodann wegen Überbürdung mit Stunden, denn der Herr Director hat sich nicht nur das Passendste sondern auch zur passendsten Zeit ausgewählt. Der edle Goram wird wohl nächstens abgehen oder gegangen werden, da er wohl mehr Stunden benebelt als nüchtern ist. Sein Freund und Saufcumpan, Puls, soll gar das Delirium haben.

Diesen Winter hatten wir endlich einmal ausgezeichnete u. lange anhaltende Eisbahn, so daß ich doch dem innern Drange nachzugeben mich endlich genöthigt sah u. ein paar Schlittschuhe, sogenannte Holländer kaufte. Seit der Secunda hatte ich keinen Schlittschuh am Fuße gehabt. Meine Befürchtung k war daher wohl gerechtfertigt, es möchte mir gehen wie beim erstenmale, wo meine erste Heldenthat darin bestand, mich nachdem ich mit vieler Mühe mich vertikal gerichtet || ebenso schnell wieder horizontal zu strecken. Und nicht 50 Schritte vorwärts, und fertig mit Donnergepolter lag ich 5' 10" lang gerade vor den Füßen einer Reihe von Damen, denen ich eben ausweichen wollte, auf dem Rücken; damit noch nicht zufrieden hatte ich nichts eiligeres zu thun, als mich um [Zeichen] M/p zu drehen, bis ich auf dem Bauche lag u. in meinem Flauschburnuß schier einem Mühlknappen ähnlich sah. Meine vertebrae caudales waren aber dermaßen erschüttert, daß ich verschiedene Tage nicht gehen, viel weniger laufen konnte. Später habe ich dies Experiment nochmals versucht, aber schon mit größerer Gewandheit ausgeführt.

− An wen ich diesel Briefe eigentlich schicken soll, weiß ich nicht, da ich weder Deine noch W’s Wohnung weiß, denn der kleine Weiß scheint trotz des Winters ein Nomadenleben zu führen, Deine Addresse aber ist mir gänzlich unbekannt. Ich muß deshalb Euch dringend ersuchen, mir Kenntniß davon werden zu lassen.

Von heute an ist mir ein großer Stein vom Herzen genommen, da ich gestern mein Censurschreiben u. Versetzen glücklich beendigt habe, freilich mit Verlust eines ganzen Abends, so daß dieser Brief noch immer nicht beendigt ist, was nun hiermit geschehen soll. Ich habe daher nur meine oben ausgesprochene Bitte zu wiederholen, da zwei wohl leichter Einem, als Einer Zweien schreiben kann.

Schließlich noch die Mittheilung, daß mein Kater etwas ruhiger geworden ist, obwohl meine Arbeit noch auf dem alten Flecke ist; das Briefschreiben hat jedenfalls niederschlagend gewirkt.

Mit dem Wunsche, daß Ihr beide mit Grillen u. Sorgen nichts zu schaffen haben möget, schließe ich dieses Mosaik, indem ich auch fernerhin bin

Dein alter

Freund V. Weber

Meine Wohnung wird auf nächsten Sommer noch dieselbe (Weidenplan 7.) bleiben.

a gestr.: erst; b gestr.: en; c gestr.: hat; d gestr.: sitze; e gestr.: g; f gestr.: seh; g gestr.: an sich; h gestr.: Bedingungen; i gestr.: bedeutende; j gestr.: daß; k gestr.: , es noch; l gestr.: n

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.03.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16204
ID
16204