Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Groß-Kyhna, 13. September 1855

Groß-Kyhna den 13/9 1855

Mein bester Ernst!

Es ist eben noch früher Morgen, da ich mich von 1000 Schwalben umzwitschert, niedersetze um auch mal wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben; aber ein sehr lebhafter Traum der vergangenen Nacht, worin ich mit Dir eine Spritzfahrt machte, erinnerte mich sehr stark an meine Schuldigkeit nach soviel Monaten Dir einmal zu schreiben. So will ich denn beim Anfang des verflossenen Halbjahres beginnen; die Darlegung der Verhältnisse hoffe ich, wird mein Schweigen müssen rechtfertigen. Etwa 14 Tage nach Deiner Abreise von Halle, rückte ich daselbst ein u. bezog meine neue Stube, wenn ichs so nennen soll. Finster, kalt, feucht war sie eher einem Keller zu vergleichen, das Licht der Sonne hat sie nie gesehen, blos ein verwünschtes Reflexlicht a von dem gegenüberstehenden Hause blendete die Augen. Das war für mich, der ich ohne Sonne nicht leben kann, eine höchst traurige Aussicht, zumal noch eigenthümliche Umstände dazukamen, die mich den ganzen Tag an die Stube fesselten. Was meine Arbeit als Assistent betrifft, so ließe sich wohl keine leichtere u. günstigere Assistentenschaft denken, denn die Erfahrung hat es mehrfach gelehrt, daß einem Assistenten meist Alles mögliche aufgebürdet wird. Ich bin 4 oder 5 mal auf der Bibliothek für Gebel gewesen u. habe etliche Bücher heimgeschleppt, habe einmal einen Stoß Zeitschriften einpacken helfen u. habe Referate aus Physik u. Botanik gemacht. Das ist meine ganze Arbeit gewesen. Eine außerordentliche Arbeit war dann noch, daß ich an meinem Geburtstage als dem Stiftungstage des naturwissenschaftlichen Vereins, in der Weintraube, in Gesellschaft verschiedentlicher Professoren eine Flasche Wein vertilgen mußte; na es hatte keinen schlimmen Folgen weiter. Im Ganzen bin ich auf eine höchst traurige Weise um den Sommer, der allerdings nicht viel nütze war, betrogen worden; denn bis zu Pfingsten tagtäglich Husten u. Schnupfen haben ist nicht eben sommerlich. Dazu noch, die Spitze von Allem, kein Hauspump. Ungeheurer Überfluß an Mangel kleinen Geldes u. kein Hauspump, das sind aber 2 völlig incommensurable u. irrationale Größen; sodaß, was die häusliche Gemüthlichkeit anlangt, dieser Sommer entschieden zu den traurigsten gehört, die ich in Halle verlebt. Doch was nützt das endlose Jammern, ich habe einen kühnen Schritt gethan, ich bin wieder frei, den Winter über in jener Wohnung das hätte mich auch noch leiblich verkümmern lassen! So will ich zu etwas Erfreulicherem übergehen, kann jedoch nicht umhin vorher noch von einem schmerzlichen Zwischenfall zu vermelden, da dieser besonders entscheidend gewirkt hat. Der naturwissenschaftliche Verein hatte als Anfang zu einem Herbarium einen bedeutenden Stoß Pflanzen, die ihm vorzüglich von Garke u. einigen Andern Geschenkt waren. Diese befanden sich nun, in allerlei Zeitungs u. anderm Papier liegend, in einer grauenhaften Unordnung. Es war deshalb meine angenehme Pflicht, nachdem Papier angeschafft war, jenes Herbar zu ordnen. Es geschah, wenn gleich es viel Schweiß kostete, da ich || nicht eher ruhte, als bis ichs hinter mir hatte. Diese Arbeit mahnte mich aber mächtig auch mein Herbarium endlich in vollständige Ordnung zu bringen d. h. die vielen noch außerhalb sich herumtreibenden Exemplare theils in neue Bogen, theils in die alten zu den Ihrigen zu bringen u. mit den nöthigen Zetteln zu versehen. Auch dies brachte ich zu meiner großen Freude ziemlich fertig, freilich machte ich die Entdeckung, daß in vielen Bogen schlechterdings weiter nichts lag als ein alter Zettel. Kurz vor den Ferien hatte ich den b gescheiten Einfall auch die letzten sich noch herumtreibenden Exemplare zu denen noch einige wenige frisch gesammelte kamen in Reih u. Glied zu stellen. Nahm also die erste beste Mappe heraus, es waren die Orchideen. Orchis ustalata!: Hm, ist schade sind alle Exemplare verschimmelt, doch es ist ja keine selbstgefundene. 2ter Bogen: Hm, sieht fast aus wie Schimmel, ist zu zeitig hineingekommen. 3ter Bogen: Hm, 4, 5, usw. Bogen: oweh! die sämmtlichen Orchideen befinden sich in der schönsten Verschimmelung! Doch es sollte noch schöner kommen. Ich sollte die starke Mappe der Compositen, die ich mit aus [!] Ausnahme der Cirsium, Hieracium, Crepisarten fast vollständig hatte. Fange bei Eupatorium an, höre bei Xanthium auf. Diese Mappe ist jetzt am vollständigsten geordnet. Zettel im Überfluß, denn sie besteht aus einem einzigen Bogen, in welchem Hieracium Schmidtii sich befindet, was ich aber einschachteln wollte, als ich diese schöne Entdeckung machte. In Zeit von 1½ Monat, sämmtliche Orchideen, über 100 Compositenarten vernichtet! Das ist grausam! u. was das kränkende ist die ich vorher, zu einer Zeit wo mir jede Minute theuer war, erst mit aller Sorgfalt geordnet hatte. Da kochte es in mir: Hier hast Du am längsten gewohnt. Weiter nahm ich die Mappe der Labiaten vor: Ajuga pyramidalis, Marrubium peregrinum (2 Bogen voll) habe ich nicht mehr. Von den übrigen ist ⅔ verschimmelt oder zerfressen. Läuse, Wanzen u. sonstiges Ungeziefer lief schockweise darin rum. Hätte sich nicht mit der Zeit mein Ingrimm etwas gelegt, so besäße ich jetzt außer Gräser, Carices, Thalamifloren gar kein Herbarium mehr, denn was zwischen diesem Anfang u. Ende liegt, Leguminosen, Dolden usw. war mehr oder weniger verschimmelt, doch habe ich b mit einer Feder möglichst gereinigt was noch zu retten war u. dann den ganzen Schwindel in Hetzers trockene Stube übergesiedelt. Ich bin zwar jetzt nicht so sehr begeistert für systematische Botanik wie überhaupt für Systematik u. daher hat auch das Herbarium nicht mehr den vollen Werth für mich, als früher. Allein der Gedanke, daß die viele, viele Zeit, die ich darauf verwandt, Hunger, Durst u. die übrigen Mühsale der Excursionen, endlich das Geld, was Papier u. Mappen gekostet haben, so gar keinen Nutzen gebracht haben sollen, jetzt wo das langersehnte Ziel fast erreicht war, ist wohl empörend genug!

Das waren meine Freuden während der schönen Jahreszeit. Noch muß ich Dir aber von einer Thatsache anderer Art schreiben, wenngleich der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist, wo ich es eigentlich dürfte. Allein weil die Geschichte doch spurlos im Sande verlaufen wird, schadets nichts. Mit Physik habe ich mich erst im 4ten Semester angefangen abzugeben u. zwar war es die Lehre vom Licht, die ich zuerst bei Knoblauch hörte u. die mich auch sofort mächtig anzog, denn von der Schule her wußte ich soviel als gar nichts von Undulationstheorie. Nur daß wir bei Buchbinder einmal durch Turmaline schauen mußten, war mir noch erinnerlich, was aber Turmalin war u. was wir dabei || hatten sehen sollen, das konnte ich nicht angeben. Nun begab es sich, (Du wirst nicht begreifen wo das naus soll!) daß ich im Laufe der Zeit doch wieder vergessen hatte, wie diese Sache eigentlich beim kreisförmig u. elliptisch polarisirten Licht u. bei den farbigen Reizen in Kristallen zuginge, so hatte ich mir denn vorige Herbstferien vorgenommen, diese Sache genauer zu studiren. Ich ließ mir deshalb den Eisenlohr verschreiben um nur etwas physikalisches zu haben. So kam ich etwa den 20ten October 1854 wieder nach Halle: als ich auch einmal das schwarze Bret u. die dort angeschlagenen Preisaufgaben studirte. Da fand sich unter anderm: Amplissimus ordo philosophorum: die Aufgabe: Quatenus radii luminis et coloris unum idemque dici possint? Nun konnte etwas c besser zu einander passen? Bei mir stand es sofort fest: du gehst daran. Zunächst erwarb ich mir von Hetzer den Müller Lehrbuch der Physik 4te Auflage für 5 rℓ u. ochste zunächst die Wasserwellen nach Eisenlohr u. Müller u. da mir diese öfters zu kurz waren holte ich mir von der Bibliothek noch Webers Wellenlehre u. trieb dann auch Optik. Allein da mir hierin die beiden Lehrbücher nicht genügten, verschrieb ich mir noch: Beer Einleitung in die höhere Optik was ich dann nach vielen Drängen u. Treiben auch im Januar erhielt. Jetzt warf ich mich mit allem Eifer hierauf, allein dies Buch hatte etwas so Abstoßendes, daß es lange währte ehe ich es lieb gewinnen konnte. Ein holperiges, eckiges Deutsch, ganz neue Ausdrücke: anisotrope, heterotrope Mittel usw. gänzlich verschiedene Anordnung des Stoffes, dabei Seitenlange mathematische Entwicklungen mit Differenzialquotienten u. Integralen, das war allerdings höhere Optik. Es kostete viel Zeit, da die Experimente bei Knoblauch mir auch soviele Tage wegnahmen, u. nachdem wieder der Berliner Aufenthalt gänzlich zerstreut hatte, so kam es daß ich Ende der Osterferien immer noch nicht mit dem Licht fertig war. Der 15te Juli war der Tage der Abgabe. Inzwischen trat ich meine Assistentenschaft an. Fast verzweifelte ich das Ziel noch zu erreichen. Bei dieser kurz zugemessenen Zeit auch noch 2 Herbarien zu ordnen, dabei auch noch von Knoblauch gedrängt werden, doch die angefangenen Experimente zu beendigen. Referate machen, einem Mediciner, der die medicinische Preisaufgabe machte, auch noch Zeichnungen machen und das Alles ist wohl genügend Einem den Sinn zu verwirren. Endlich in den Pfingstferien, am ersten Feiertage, (die Pfingstbierburschen zogen just vorbei) nahm ich die Feder u. fing nun ernstlich an zu schreiben. So habe ich denn auch in der kurzen Zeit von 8 Tagen einen großen Theil des Lichts ausgearbeitetd. Poggendorfs Annalen, Comptes rendus und dergleichen waren jetzt unentbehrlich, u. doch werden diese Schriften keinem Studenten von der Bibliothek geliehen, so mußte ich täglich auf die Bibliothek laufen, mir irgend welchen Band (1 Inhaltsverzeichniß gab es nicht) geben lassen u. wenn es etwas Passendes enthielt, dies ausziehen. Endlich aber holte ich mir auf Giebels Namensunterschrift was ich brauchte. So wuchs denn das Werk täglich um mehrere Seiten. Sobald der Morgen graute, ging ich daran u. erst in der Dämmerung hörte ich auf, daher man glaubte ich wäre tieftraurig oder ein Einsiedler geworden. Je weiter ich aber fortschritt, um so eifriger wurde ich, u. oft mußte ich aufhören weil mir die Hand vor Aufregung zitterte u. nur Krikelkrakel machte. Endlich den 7ten Juli war das Concept fertig. Es waren 24 Bogen! Noch 8 Tage Frist, während welcher diese 24 Bogen ins Lateinische übersetzt u. ins || Reine gebracht werden sollten. Das wäre denn mehr als eine Herkulesarbeit gewesen, denn es war rein unmöglich. Deshalb ging ich zum Decan um bei der Facultät auf eine Aufschiebung der Abgabe oder Erlaß des Lateinischen zu bewirken. Selbiger machte mir auch Hoffnung auf Erfolg, gab mir aber vorläufig den guten Rath wenigstens den Kern der Arbeit lateinisch zu liefern. Nun der Kern das waren allein 6 Bogen. Inzwischen fing ich an einzuschreiben, von früh 5 bis Abends um 11 Uhr. Die Facultät hatte nichts gegen die deutsche Bearbeitung wenn sie die Statuten erlaubten, diese verlangen Latein. So schrieb ich denn weiter, so lange die Hand noch einen Strich machen konnte. Den 14ten Juli früh 11 Uhr gab ich das 24 Bogen starke Werk ab. um 12 Uhr wurde das Sekretariat geschlossen. Am 9/8 ist bereits das Urtheil gefällt worden, e zu Königs Geburtstag wird es veröffentlicht werden. Wegen Eintritts der Ferien habe ich nicht weiter nachspüren können, nur soviel habe ich von der 3ten Hand daß der Decan geäußert, die deutsche Bearbeitung wäre gut; unglücklicherweise ist noch 1 2te lateinische wenn auch nicht so gute Bearbeitung von Einem im 3 oder 4ten Semester, mit dem wir nicht gerade sehr intim sind. Auf den Preis von 50 rℓ habe ich bereits verzichtet, dieser Verlust würde mich nicht schmerzen, sobald nur die Fakultät meinen Namen als Verfasser erfährt. Denn wer eine Preisaufgabe gelöst, bekommt gewöhnlich dieselbe zur Examenarbeit.

Am letzten Tage vor den Ferien holte ich dann Weiß u. Hetzer zu mir u. machte sie mit dem Stande der Dinge bekannt, denn kein Mensch hatte vorher etwas davon erfahren, u. außer diesen beiden weiß bis jetzt Niemand in Halle daß ich die physikalische Preisaufgabe bearbeitet habe.

Ich habe Dir eine lange Predigt gehalten, aber wenn Du bedenkst, daß ich ¾ Jahr f mich mit diesem Gedanken getragen, u. in welche Spannung ich mich diese Zeit hindurch befunden, so wirst Du es auch erklärlich finden wenn ich so gewissermaaßen noch einmal die Steine von dem Herzen wälze, die Monate lang wie ein Alp darauf lasten. Möge nur zuletzt Königs Geburtstag ein Freudentag u. nicht ein Tag der Täuschung sein! − − Nächste Ostern hoffentlich werde ich mein Oberlehrerexamen bestehen, und zu Michael, sofern eine Stelle leer wird, als practischer Schulmeister auf der Realschule eintreten. Hurrah!

Wie ist Dir denn das Alpenschuhgehen bekommen, schicke mir doch ehesten einen kleinen Reisebericht! Ich für meine Person, so schrecklich mir auch der Gedanke war u. noch ist, bin in Kyhna sitzen geblieben wie im vorigen Jahr! Gott bessere es! Segne die innern Missionäre, die in diesen Tagen ein großen Kirchentag halten wollten – aber die Cholera kam. Gott bessere es! Was diese Herren schon wieder Kirchentagen wollen, ist mir unbegreiflich, wahrscheinlich einige neue „Kernlieder“ einführen u. die Schulregulative noch etwas regulativer machen. S’ist eine Freude. Damit diese Herren auch noch billig in Halle wohnen konnten, wurden die Studenten vom Rector u. mehrern Theologen aufgefordert, denselben ihre Stuben während g des Kirchentags zu überlassen. Unsere Stipendienexamenschinderei dauert übrigens fort, trotzdem Alle, Professoren wie Studenten damit unzufrieden sind. So soll jetzt wieder ein Examen machen, weil der Herr Universitätssekretär mit dem ich mich schon mehrmals gekampelt habe, ein Prüfungszeugniß das ich an Pfingsten eingereicht, vertrödelt hat! − −

Da ein 2ter Bogen doch nicht voll würde, will ich lieber, was ich sonst noch auf dem Herzen hätte, bis zum [weiter am Rand von S. 3] Brief, Anfang nächsten Semesters, verschieben. So sei denn vielmals gegrüßt u. gedenke zuweilen Deines alten Freundes V. Weber.

a gestr.: dem; b gestr.: es; c gestr.: pass; d korr. aus: bearbeitet; e gestr.: W; f gestr.: allein; g gestr.: dieser

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
13.09.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16202
ID
16202