Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 12. bis 17. Januar 1855

Halle den 12ten/1 55

Mein theuerster Ernst!

Dein letzter sehr lieber Brief traf eben noch zeitig genug ein um mich anzutreffen, da ich bereits mein Bündel geschnürt hatte und nur noch auf meinen Bruder wartete. Da der kleine Weiß ebenfalls zu schreiben sich anschicken will, sporne auch auch ich jetzt meine schon trübgewordene Lampe (es ist 10 Uhr Abends) von Neuem an um mir noch einige Augenblicke zu gönnen. Ich bin jetzt so mit allen Hunden gehetzt, daß ich eben nur so spät erst an Schreiben denken kann. Einmal nehmlich war ich in dieser Woche so wenig als möglich zu Hause, weil gewisse Leute mich gern zu sprechen wünschten ich aber nicht sie; sodann habe ich wieder einige französische Aufsätze aus Annales de Physik durchzunehmen u. zu 1 Vortrag bei Knoblauch zurechtzumachen, sodann einige Referate für die Vereinszeitschrift für mich privatim zu oxen u. dann auch noch 1 mathematische Sommerarbeit zu machen, ferner wieder mehrere Stunden zu experimentiren u. schließlich auch noch eine Stunde Mittags im Kaffeehause zu sitzen, nöthigenfalls eine Partie Domino spielend, ziehst Du diese 8 Stunden die der Tag hat, ab so wird verflucht wenig übrig bleiben. Wäre Katzenjammer nicht ein völlig überwundener Standpunkt; ich hätte schon Gelegenheit mir einen tüchtigen anzuschaffen. Mit dem Bewußtsein, daß Schneider Schuster Spritze, Stiefelfuchs Philister, alle mich erwarteten, ein jeder sein Theil zu empfangen kam ich hier an mit 25 Sgr in der Tasche in der sichern Hoffnung andern Tags mein Stipendium erheben zu können. Nach dem schönen neuen Gesetz a für jeden Pfennig den man erhalten will, erst ein Examen zu bestehen, hatte ich mir vor den Weihnachtsferien ein Prüfungszeugniß ausstellen lassen. Selbiges schrieb || ein Professor, der Decan las es durch. Jetzt nach 14 Tagen kommen diese Wische an sämmtliche die deren eingereicht zurück, b als ungültig. Anstatt also sein Geld zu haben, hat man das Vergnügen sich nochmals examiniren u. 1 Zeugniß ausstellen zu lassen u. um weitere 14 Tage zu warten. Dies Gesetz besteht trotzdem es alle Professoren für Unsinn erklären. Burmeister z. B. zu dem 1 Examinand gekommen ist macht seiner Wuth Luft mit den Worten: da haben sie mir 50 solche A…wische [!] (Prüfungszeugnisse) geschickt, ich weiß gar nicht was ich damit soll, legt dann einen c Schädel vor, den Examinand natürlich nicht kennt. „Nun wobei bin ich das letztemal stehen geblieben?“ mit den Beutelthieren; dann wird’s wohl 1 solches sein. „Ja, es ist gut! Es ist dann doch 1 Examen!“ Ich bin daher im Allgemeinen in 1 sehr prügellustigen Stimmung – der kleine Weiß ist auch etwas unlustig, er schrieb mir in den Ferien einen sehr geheimnißvollen Brief, dem ich nur so viel entnehmen konnte daß er Ostern nicht nach Berlin geht und daß Du nicht dort bleibst. Es mag ihm dies allerdings etwas quer kommen; andern Leuten ist es auch schon ähnlich gegangen.

Was nun ferner Deinen letzten Brief anlangt, so finden wir (um mit Schlechtendal zu reden) daß wir über seinen Inhalt sehr sehr erstaunt waren. So bist Du denn endlich auch durch Nacht und Blut zum goldnen Licht hindurchgedrungen. So möge d Dir auch das neue Jahr in schöner Harmonie verfließen und jener innere Zwiespalt und die Zerrissenheit die einen zu nichts kommen läßt, ferne bleiben. Dies sei mein Neujahrswunsch für Dich. Wenn mich zuweilen Sentimentalität beschleichen will, so ist es nur die traurige Erinnerung an 1 noch traurigere Zeit, die man sich mit u. ohne Schuld bereitet hat. In den letztvergangenen Vierteljahr habe ich mich daher sehr schlau befunden, denn wer es nicht aus Erfahrung kennt, weiß es nicht, mit welcher Wucht die Sorge um das tägliche Brod auf dem Menschen lastet, wie sie der Geist drückt und jede freie || Thätigkeit unmöglich macht.

den 17/1 55

Es ist zwar heute ebenfalls wieder spät genug geworden um mich gesetzlich ins Bett legen zu dürfen, allein da nun heute jener 17te Januar ist, der auch schon im Jahre 1851 war, als man in Merseburg noch Landwehr Gendarmerie oder Gendarmerie Landwehr hatte und der kleine Weiß noch in dem „so ehrwürdigen Hause“ wohnte, so kann ichs mir nicht versagen noch einige Minuten mit Dir zu verplaudern. Der Brief wird fertig wohl sowie so mehr das Ansehn einer Stoffmustersammlung oder auch wie unsers Vaterlandes politische Charte aussehen. Es geht mir diesmal mit dem Briefschreiben gerade wie öfters mit den Arbeiten namentlich in letzterer Zeit, wo mitten im logischsten Denken meine Gedanken wie Feilspäne vom Magneten von der Arbeit ab nach e andern Orten, meistens Berlin und gewisse andere südlich gelegenere Orte abgezogen werden. Und dann bin ich meistens viel zu faul, f zumal wenn der Briefbogen nicht schon vor mir liegt, alle diese nur durch den Kopf fahrende Gedanken zu Papier zu bringen u. ein Verfahren die Gedanken zu daguerrotypieren ist leider noch nicht bekannt. Sodann braucht 1 Gedanke zu seinem Entstehen so geringe Zeit, wie ich heute erst in der Physik bei Wheatstones Versuch Geschwindigkeit oder Electricität zu messen, erfahren habe, da in 1/60 000 ### ein Gedanke wenn auch nur gewissermaaßen um 1 Gedankenpunkt zum Bewußtsein kommen kann. An Alledem ist übrigens Niemand Schuld als Deine liebe Person; die andern Leute hitzköpfig machen will, ihnen allerlei verwegene Gedanken und Hoffnungen einimpft von denen der kleine Weiß so prosaisch ist zu sagen: träumen läßt sich sehr schön davon: Letzteres kenne ich schon aus Erfahrung g daher bin ich schon soweit verrückt, daß Alles was auf die Gegenden zwischen Asien und Amerika oder Asien und Australien ein ganz besonderes Interesse hat, wie man fern vom Vaterland, sich freut 1 bekannten Namen zu hören. ||

Der kleine Weiß hat mich zu Weihnachten mit einem sehr schönen Geschenk überrascht. Ich hatte nehmlich schon lange auf seinen Vorschlag auf seines Bruders Rechnung (in Leipzig) mir den Eisenlohr kommen lassen, ihn aber immer noch zu bezahlen verabsäumt. Er ist mir nun damit entgegengekommen indem ich 1s Tags die Widmung im Buch las. –

Auch Halle hat sein Gutes u. zwar etwas, dessen man sich in andern Universitäten nicht am wenigsten wahrscheinlich in Berlin erfreuen kann. Ich habe Dir schon geschrieben daß wir bei Knoblauch in 1 physikalischen Seminar Vorträge über die neuesten Forschungen in der Physik halten u. dieselben uns durch das Experiment klar machen können u. zwar Allens [!] unentgeltlich. So habe ich z. B. zuerst die Drehung der Polaritätsebenen durch den galvanischen Strom nachgewiesen (d. h. nicht entdeckt) dann die Intensität des Erdmagnetismus für Halle bestimmt. Wenn hierbei auch weiter nichts herauskommt, so hat es doch den sehr wesentlichen Vortheil, daß man die Apparate in die Hand bekommt u. sie zu Handhaben lernt. Würde ich z. B. die angeführten Versuche wiederholen müssen so würde die ganze Geschichte um 3–4 Tage wegnehmen wo ich das erstemal ebensoviel Wochen dazugebrauchte, denn an den ersten Stunden hatte ich nun den Apparat von innen und außen zu beschnarchen u. zu erforschen. Die Freiheit erstreckt sich aber noch soweit, daß man dort arbeiten kann, h worin man will, (falls nur die nöthigen Apparate da sind) u. so lange man will. Wenn ich sonst die Zeit hätte konnte ich von früh bis zum Abend dort sein; dazu gibt der Mann noch die Heizung u. hat doch sonst Scherereien die Menge. Man hat also ein förmliches physikalisches Laboratorium, was sich nur dadurch vom chemischen unterscheidet daß es nichts kostet während für dieses der Preis 20 fl beträgt. Ich mache z. B. jetzt 1 Cursus im Galvanismus durch. Habe 1 Tangenten und Sinusbussole zur Verfügung, Bunsensche Kette, Voltameter, an die 400 Meter Kupfer-, Messingdraht, kurz Alles was erforderlich ist um das Ohmsche Gesetz experimentell nachzuweisen. ||

In diesen Tagen habe ich mir wieder etwas Neues, in einem Atlas bestehend, angeschafft, es ist der von Lange und Lichtenstern, bei Vieweg erschienen, der jedenfalls als Schulatlas seines Gleichen nicht hat, sowohl was Preis und Werth betrifft. Es sind 44 Karten in Stahlstich, und Buntdruck, das Meer blau, Tiefland gelb usw. u. diese kosten nicht mehr als 45 Sgr. Jedes Gebiet ist einmal physikalisch, dann politisch behandelt. Durch den Buntdruck u. den äußerst scharfen u. schwarzen Stich erhalten die Karten etwas i Reliefartiges. Es ist auch bereits die 2te Auflage. Ich habe mit dem kleinen Weiß schon die verschiedenen noch unbekannten Länder, welche noch der Durchforschung harren, angesehen es ist da um Australien herum oder in Afrika doch noch so manche □ Meile [!], die weniger bekannt sein dürfte!

Was doch manche Menschen für curiose Ansichten haben, so hat z. B. ein hiesiger Professor, Mathematiker, bei dem ich auch höre, sich mißbilligend gegen Knoblauch ausgesprochen daß dieser einige Studenten (beiläufig in den ersten Semestern) in irgend welche Gesellschaft und Bälle eingeführt hat, weil sie dadurch zu zerstreut und vom Arbeiten abgehalten würden. Der Mann ist früher an der Berliner Kadettenschule gewesen und glaubt nun wahrscheinlich noch dergleichen vor sich zu haben. Doch wird ihm der Staar schon gestochen werden. Nun zum Schluß, damit der Brief nun endlich fortkömmt, noch einiges über den Deinigen mit der begleitenden Sendung, wobei ich nicht unterlassen kann Dich auf einen Erlaß aufmerksam zu machen, des Inhalts nehmlich: daß in die Packete keine Briefe weder offene noch versiegelte beigelegt sondern als vollständiger Brief nebenher gehen müssen. Doch dies beiläufig. Die Helgoländersammlung, die überreich ausgefallen ist, hat mir viel Freude gemacht, da ich schon früher bei Schlechtendal eine dergleichen gesehen hatte u. auch damals lebhaft wünschte eine solche zu besitzen. Namentlich muß ich meine Verwunderung über Deine hier zu Tage gelegte Geschicklichkeit j aussprechen, da ich hierin wohl schwerlich Dir den Rang ablaufen würde. || Hierbei will ich noch einschalten daß Schlechtendals Colleg über sogenannte Physiologie nichts weiter als das schon früher von mir gehörte über die Cryptogamen u. ebensolangweilig ist als seine Botanik. Dictiren u. immer Dictiren. Hätte ich das vorher gewußt, würde ich statt ihrer bei Leo Geschichte der Befreiungskriege gehörtk haben, die noch dazu in 1 passendere Stunde fallen. –

So ist also bei Dir nach langer Dauer die traurige Jammerzeit vorüber. Ich bin seit 2 Semestern nun vollständig mit mir einig nach allen Richtungen u. nur ein Gedanke macht mich zuweilen schütteln das ist das Lehramt mit seinem Inspirirt und Bemuttertwerden. Doch kommt Zeit kommt Rath. Mit Deinen ausgesprochenen Lebensansichten stimme ich übrigens vollkommen überein, auch darin daß sie leider sehr spät kommen zul ihrer Zeit, dann sind sie wenigstens unschädlich, als später in höhern Jahren. Wenn sonst meine Verhältnisse noch günstiger wären, u. vielleicht auch noch passende Gesellschaft dazu käme so könnte ich noch zeitweilig den Flegel spielen, es kömmt noch zuweilen die Lust dazu an. – Da ich einmal jetzt nicht in der Laune bin lange Briefe zu schreiben, u. ich diesen schon so ziemlich überdrüssig bin, will ich mich beeilen ihn zu beendigen, da inzwischen schon wieder ein neuer von Dir ankommen könnte. Großes Vergnügen wird er Dir sowie sonicht [!] bereiten. Ich wollte nur ein Lebenszeichen von mir geben u. der Empfang des letzten Briefs, für den ich Dir nochmals danke, da er mir große Freude gemacht hat. Werde nur der nun eingeschlagenen Richtung nicht wieder untreu, damit Du zu Ostern, (woran ich indeß noch gar nicht zu denken wage,) eine frohe Zusammenkunft haben möge. – Auf baldige Antwort wartet Dein Dich innig liebender

V. Weber. Jägerplatz Nr 4.

Halle hat eine neue Hausnummervertheilung (jede Straße ihre eigne Zählung) erhalten, daher meine veränderte Adresse.

a gestr.: muß man; b gestr.: b sie; c gestr.: kl; d gestr.: ch; e gestr.: gern; f gestr.: waren; g gestr.: doch; h gestr.: was; i gestr.: Brillan; j gestr.: bewun; k korr. aus: gelesen;

l gestr.: r

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.01.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16199
ID
16199