Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 28. November 1852.

Mein armer unglücklicher Ernst!

Seit ich überhaupt über Berufswahl nachgedacht u. mich mit der Wahl abgeplagt habe habe ich auch immer den glücklich gepriesen, der von früh an weiß wozu er sich bestimmt u. dessen Verhältnisse sich auch so gestalten, daß sich ihm keine Hindernisse in den Weg stellen. Zu diesen Glücklichen habe ich auch Dich von je gezählt, wenn ich sah, wie furchtbar schwer mir die Entscheidung wurde u. wie mir, wenn ich endlich zu einem Resultat gelangt war, dies sofort von außen wieder zerstört wurde. Jetzt bist also auch Du in dies Stadium gelangt in welchem ich mich 5 ganze Jahre befunden habe. Du wirst hiernach ermessen können, welche Qual mir diese erste Aufgabe, die man nach der Konfirmation als „Erwachsener“ zu lösen hat, gemacht hat. Für mich war sie namentlich in letzten Jahren um so schwerer, als ich durch eine Äußerung meines Vaters, wonach, da ich erklärte Theologie aus sehr auch ihm einleuchtenden Gründen nicht studiren zu können, sogleich die Idee des Studirens überhaupt aufgegeben werden müßte. Was nun anfangen? Es ist fast nichts vom Schuster bis zum Studenten was ich nicht hätte anfangen wollen, bis mir eins nach dem andern für unpassend erklärt wurde. So wäre ich wenn nicht ein kleiner Zufall dazwischen gekommen wäre, jetzt wahrscheinlich Maler usw. An die Mathematik u. das ist eben das Pech, habe ich natürlich nicht gedacht u. mich daher auch weiter nicht gründlich damit abgegeben.

Was nun Dich belangt, so konnte ich allerdings in der letztern Zeit, wenn ich mir die Sache etwas überdachte, mich mit dem Gedanken nicht sowohl an dem Medicinstudiren überhaupt als vielmehr an die spätere Habilitirerei als ausübender Arzt usw. nicht recht vertraut machen. Indessen, da Du nun einmal angefangen hattest, u. die Sache ging, so dachte ich an ein etwaiges Umsatteln nicht im Entferntesten. Daher kam mir Deine jetzige Absicht, zumal je weniger doch aus Deinem Gespräch am 25/10 nicht das Geringste daraus zu entnehmen war um so unerwarteter u. überraschender. Wenn ich Dich nun hierbei durch meinen Rath unterstützen soll, || so komme ich allerdings in eine schwierige Lage, denn einmal schilderst Du mir Deine Liebe zu den Naturwissenschaften (was ich natürlich, d.h. ich Dein Freund nicht ich als Rathgeber weiß) als so groß u. die Beschäftigung mit ihnen als so interessant für Dich, daß ich dadurch mich bestimmen lassen muß die das weitere Studium derselben dringend anzurathen, da es 1mal um Deine Anlagen u. schon erworbenen Kenntnisse (dies soll nichts weniger als Schmeichelei sein) schade wäre 2tens aber weil Dir doch ein fremdes Studium trocken u. triste vorkommen würde. Eine Verbindung aber der Naturwissenschaften mit einem andern Studium z. B. Jura würde dann doch blos die Beschäftigung damit als a Zeitvertreib erlauben. Dann bleibt allerdings nichts übrig als Mathematik u. Du bist dann mit demselben Beweggrund dazugekommen wie ich.

Du sprichst mir aber da von Genie, besondere Begabung u. Anlage die man zur Mathematik haben müsse, um in ihr Fortschritte zu machen, da] ich mich fast beleidigt fühlen konnte, wenn ich sonst empfindlich wäre. Denn: kann ich mich überhaupt nicht rühmen ein Genie zu sein u. am allerwenigsten in Mathematik. Darum weil was diesen Punkt anlangt, so kannst Du, meiner Meinung nach getrost diese Laufbahn betreten zuerst gehört die Lust dazu. Wenn freilich der Gedanke sich mit diesem Zeuge, was er froh ist endlich abgethan zu haben, haarsträubend ist, dem dazu zu rathen wäre, natürlich Unsinn.

Was nun das Studium selbst der Mathematik betrifft, worüber Du mich um Auskunft bittest, so muß ich gestehen, daß allerdings der Anfang einiges Kribbeln im Hirn erregt. Dies rührt jedoch daher, weil die Begriffe, mit denen jetzt allein operirt wird, und die jetzt das alleinige abc der Rechnung jetzt [!] bilden, ganz neue und ganz unbekannte sind. Dies ist namentlich der Begriff der Function. Die Functionstheorie erscheint wenn man die Einleitung z. B. in die Differenzialrechnung wo sie eine große Rolle spiele, vor sich hat, so || und [!] einfach, wie nur irgend etwas in der Welt sein kann. Geht man aber weiter, so kommt der Begriff der steten Veränderung der einen Größe und in Folge dessen irgend einer 2ten Größe. Auch dies ist einfach, denn man braucht so nur irgend einen Ausdruck mit 2 Unbekannten zu denken und die einen verschiedenen Werthe annehmen zu lassen , so ist klar daß auch der Werth der andern geändert wird. Jetzt heißt es aber, die Zahlen sind in beständigem Fluß und unsere Zahlen sind nur einzelne Flußpuncte, die man aus jenem Continuum herausgeschält und fixirt hat. Dann das stetige Wachsen der Größe, da wird mit b ausdehnungslosen Verflußpunkten operirt daß einem der Verstand stille zu stehen Lust hat. Indessen nimm irgend einc Lehrbuch der Logik her und ließ die Überschriften von Sein, Sein und Nichtsein sind identisch, das Etwas usw. und Du wirst jedenfalls dasselbe Gefühl haben wie in der Differentialrechnung bei dem ebenerwähnten Gegenständen, nur daß in der Logik die Sache noch abstracter erscheint als in der Mathematik. Alle diese Sachen kommen meist nur im Anfang vor. Hat man den später d hinter sich, so kommt das eigentliche Rechnen und wenn man sich hierin übt, so kommts nicht darauf an, ob man jene Anfangsgeschichte über die sich übrigens die Mathematiker selbst bei den Köpfen zausen verstanden hat oder nicht. Für uns Merseburger ist es ein Glück und ich kann es Buchbinder jetzt nicht genug Dank wissen, daß er die Functionslehre, Binom usw. noch durchgenommen hat. In der Geometrie e ist dann das Koordinatensystem die Grundlage, uns ebenfalls ein neuer übrigens aber höchst 1facher Begriff.

f Im übrigen verweise ich Dich auf Gandtners Brief an mich dem zu schreiben ich Dir hiermit zugleich anrathe.

Der übrige Inhalt Deines mit größter Ungeduld erwarteten Briefes hat mich nicht eben freudig gestimmt. Ich war nach Lesung desselben so aufgeregt, daß ich fast selbst in Verzweiflung gerieth || und die Nacht unruhig schlief. Ich weiß ja, welcher Zustand das Heimweh ist und daß dem, den es in seiner Stärke gefaßt hat, zu Allem fähig und unfähig macht. 10 Jahre lang hat mich Kyhna und oft am frühsten Morgen oder gar um Mitternacht hinauswandern sehen, beladen mit dem kleinen aber für mich schweren Ranzel und irgend einem Päckchen mit Überresten des festlichen Kuchens, zu dessen Verzehrung ich mich dann gewöhnlich unterwegs ungesehen an einer Stelle niedersetzte und mit Thränen in den Augen nach Morgen sah, ob ich vielleicht den spitzen Kirchthurm zum letzten Male erblickte. Und dann gings langsam schweigend fort, denn mit jedem Schritt nähertw ich mich ja dem Orte meiner Qual (Es war dies die Zeit der Quinta, wo das Fuchs sein nicht zu den Vergnügungen gehörte). Wenn ich den letzten Abend oben auf den weitgem grausigen Boden schlief, haben mich meine Eltern unten jammern hören. Jetzt freilich ist Gottlob diese Zeit vorüber. Ich gehe von Morgen nach Abend oder Mittag ebenso gern und weder Blitz und Donner, noch Regen und Schloßen, was ich Alles schon genossen habe, können mich in meiner frohen Laune stören. Wenn früher freilich die Leute den armen kleinen Schüler, der so mutterseelenallein und verlaßen den weiten Weg in die Fremde hgehen mußte, bedauerten und bemitleideten, so werden sie jetzt den langen Schlagetodt, der mit Schritten von 5 Fuß schreiend (resp. singend und pfeifend mit dem gelben 2½ Sgl. Stocke wie ein mit Wespen Kämpfender die Luft durch hauend, herangestürmt kommt, so werden sie den höchstens auslachen und sprechen: na der muß doch n Klaps han.“ iDiese Redensart stammt noch aus der Gänsemarschzeit (Fuchsjahr und Prima). Wir hatten uns nehmlich gegen 30 auf dem Bahnhof zusammen gefunden machten dann einen Gänsemarsch auf der Lauchstädter Straße bis ans „Monument“ von dort herunter auf die Hallische und nachdem wir einige Φιλiςτer [!] umgangen hatten, ging es in die ‚Hölle‘. Schweigen und wie auf einen Wink traten alle in einen Kreis stimmten gaudeam an und ein Theil worunter auch ich machten noch einen Privatmarsch in die Gotthardstraße. Vor dem Hahne stand der Hausknecht seine Pfeife gemüthlich schmauchend. Der erste nahm schweigend die Mütze vor ihm ab der 2te ebenso und so fort. Der Hausknecht machte seiner Verwunderung darüber Luft daß er sagte: Na die müssen n Klaps haben.i (was namentlich den Jungfrauen höchlichen Spaß zu machen scheint: „da kömmt deiner (Schatz): „nee der ist [nicht] so langstörrig gemacht“ u.s.w.) So war ich neulich als es 8 schlug noch zu Hause ¼ auf 12 Uhr stand ich vor der Universität in Halle.

[Randnotizen]

Ich kann wirklich nicht umhin Deinem Fleiße 2 so lange Briefe zu schreiben meine volle Anerkennung zu theil werden zu lassen. Ich werde nicht undankbar sein.

Ich habe jetzt furchtbar mit Pappen, Zeichnen usw. zu thun, weil ich die Leute nun einmal drangewöhnt habe, daß ich zu Weihnachten als Maler und Buchbinder beschere.

Du bist doch hoffentlich in den Weihnachtsferien in Ziegenrück, ich werde um diese Zeit jedenfalls wieder an Dich schreiben. Finsterbusch habe ich seine Sache selbst übergeben.

a gestr.: Nebenbeschäftigung; b gestr.: verfluß; c gestr.: en; d gestr.: diesen; f gestr.: Ob es; g gestr.: ig; h gestr.: g; i eingef.: Diese Redensart … Klaps haben.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.11.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16194
ID
16194