Siebold, Carl Theodor Ernst von

Carl Theodor Ernst von Siebold an Ernst Haeckel, München, 4. November 1875

München den 4tn November

1875.

Mein theurer Freund und Collega!

Herzlichen Dank für Zusendung Deiner Beschreibung von Brussa und dem asiatischen Olymp, welche mich außerordentlich interessirt hat. Sie kam gerade äußerst gelegen, da ich am Tage des Empfangs wieder einmal das Bett wegen sehr schmerzhafter Handgicht hüten mußte und ich mit großem Vergnügen Deinen sehr lebendigen Schilderungen von Land und Leuten folgen konnte, welche mir meine Enkelin sogleich vorlesen mußte, auch meine Frau, und eine Nichte hörten das Vorgelesene mit großem Interesse mit an.

Weniger erfreut war ich über Deine Notizen in Betreff eines Schwindler’s und Bummlers, der sich F. J. Berthold nennt und sich in Jena als Schülera von mir ausgegeben hat. Ich kann Dir nur sagen, daß, wenn es demselben gelungen wäre, Euch zu veranlassen, denselben zur Doctor-Promotion zuzulassen, derselbe Eurer Universität und resp. Fakultät wenig Ehre gemacht haben würde. Dieser Berthold hatte sich für dieb Allgemeine Abtheilung an dem hiesigen Polytechnicum inskribirt und sich in verschiedenen Hörsälen höchst unregelmäßig sehen lassen, auch in meinem Hörsaal, ohne überhaupt das geringste Interesse für Zoologie, Paläontologie, Mi-||kroskopie etc zu zeigen. Bei Dr. Graff hatte er sich zu den praktischen zoologischen Uebungen gemeldet, kam aber nur ein paar Stunden, dann blieb er weg. Auch bei Zittel hat er sich Zutritt zu verschaffen gewußt und sich zum Arbeiten gemeldet. Als ihm aber Zittel eine Aufgabe gestellt hatte, blieb er sogleich fort und gab (im vorigen Sommer) auch die zwei entliehenenc werthvollen Bücher nicht ab; diese der Bibliothek des palaeonotlogischen Cabinets sindd von demselben heute noch nicht zurückgeliefert worden. Was seine Gymnasialbildung betrifft, so ist dieselbe nicht weit her. Da Berthold in Moosburg, zwischen Freÿsing und Landshut geboren, hat er gewiß eines der Gymnasien in Fr. oder L. besucht, welche in den Händen der Ultramontanen sind, welche Schulen leider noch auf einem sehr schlimmen Standpunkte sich befinden, da sie von den Bischöfen beeinflußt werden.

Und solche Leute wollen sich zu Lehrern ausbilden; ich gehöre zu der Examinations-Commission, welche die Schulamts-Candidaten jährlich zu prüfen hat. Was man da für Erfahrungen macht! Es ist himmelschreiend. Erst jetzt ist es gelungen mit Hülfe der letzten und liberalen Kammer, den Bischöfen* die Oberaufsicht der katholischen Gymnasien zu entwinden und der Aufsicht und Controlle des Cultus-Ministerium unterzuordnen.

Dein College, Herr Professor Strassburger, wird Dir wohl meine Grüße, die ich ihm von hier an Dich mitgegeben, ausgerichtet haben. Ich habe michf recht sehr erfreut, dessen persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben, ich beneide Dich sehr um einen solchen anregenden und mittheilsamen Collegen; von den || beiden hiesigen Botanikern Naegeli und Radlkofer, da der erstere nicht mittheilsam und der letztere nicht anregend für mich ist, kann ich für meine botanischen Bedürfniße kaumg Nutzen ziehen, was ich sehr bedauere, da ja beide Wissenschaften Zoologie und Botanik in so manchen Beziehungen sich sehr nahe treten.

Ueber die Genugthuung, die Dirh durch Eilhard Schultze’s Bestättigung Deiner Gastrula-Anschauungen geworden ist, bin ich ebenfallsi sehr erfreut, und wünsche ich Dir dazu von Herzen Glück. Es muß aber doch ein schwieriges Objekt sein, diese Gastrula-Untersuchungen. Wahrscheinlich hängt doch wohl vieles von den Untersuchungsmethoden ab, welche man bei diesen Untersuchungen in Anwendung bringt. Ich selbst bin mir bei einer solchen Gastrula nicht klar, in Bezug auf die Frage:j was ich für eine Form vor mir habe; ich meine nämlich die Gastrula, wie sie bei Medusa auritak und Verwandten vorkömmt. Die frei umherschwimmende Gastrula der Medusa aurita zeigt deutlich zwei Zellschichten, als äußeres und inneres Blatt. Beide Blätter sind rund umher geschlossen, an einem Pol bildet sich eine ganz seichte Vertiefung, mit dieser setzt sich die Gastrula fest, und dehisciren alsbald am entgegengesetztenl freien Ende, die Oeffnung führt in die von der inneren Zellenschicht umschlossenen Höhle, welche nun als Magen fungirt, während an der Umgebung der dehiscirten Oeffnung (Mundoeffnung) die Tentakeln oder Arme der Hydraform hervorsprossen, so sah ich diesen Hergang 1839 in Danzig, habe ihn in den Danziger Schriften beschrieben und abgebildet, und möchte nun von Dir hören, wie sich dieser || Hergang bei Medusa mit der übrigen Gastrula-Bildung vereinigen läßt. Wahrscheinlich beziehen sich meine Beobachtungen auf spätere Entwicklungsstadien, nachdem die Gastrula schon längst das Einstülpungsstadium überstanden hat, worauf aber doch wohl eine Verschließung der Gastrula-Höhle gefolgt sein könnte. Du wirst mir dies besser auseinandersetzenm können, wie ich es mir wenigstens jetzt noch nicht zurecht legen kann.

Indem ich die freundlichsten Grüße von mir und meiner Frau an Deine verehrte liebe Frau sende, empfehlen wir uns beide Deiner freundlichen Geneigtheit mit dem Wunsche eines baldigen Wiedersehens, da ich doch gar vieles noch auf dem Herzen habe was sich besser sagen wie schreiben läßt.

Dein treu ergebener

Carl v. Siebold.

* Da sich überhaupt seit längerer Zeit zum Priesterstande nur noch sehr wenige junge Leute aus den gebildeten Ständen melden, müssen die Bischöfe ihre Geistlichen aus den niedrigsten Stände auswählen und durch Freistellen vom Studieren anlocken und das Studieren nach allen Richtungen hin erleichtern; und so sind also auf denn katholischen Gymnasien hier in Baÿerno die Ansprüche des Wissens so herabgestimmt, denn der Vatikan gebraucht ja nur Diener-Seelen, die auf Befehl handeln, wie man da ja in der letzten Zeit bei den Wahlumtrieben in Bayern leider erfahren hat. Schon als ABC-Schützen werden die Buben denp armen Eltern von den Bischöfen abgenommen, um sie dereinst zu Kirchen-Dienern (das heißt zu Priestern für ihre Zwecke) zu erziehen. Die Naturwissenschaften gehören allerdings auch zu den Studien der katholischen Theologen, diese Wissenschaften werden ihnen aber auf den sogenannten Lyceen vorgetragen, welche entfernt von den drei baÿrischen Landes-Universitäten schon vor längerer Zeit errichtet sind, und deren Lehrer aus dem Priesterstande von den Bischöfen gewählt werden; auf solchen inq ganz unbedeutenden Städten, wie Regensburg, Passau etc. dürfen bisherr sogar andere Studierende den naturwissenschaftlichen Studienkurs durchmachen; Zeugniße von solchen nur höchst Mittelmäßiges leistenden Anstalten mußten bisher von den Examinations-Commissionen der drei Universitäten respektirt werden. Schon längst wollten die verschiedenen Cultusminister diesen Mißbrauch beseitigen, es ging nicht. Jetzt wird der Versuch gehen, so hofft man, war nur der Muth nicht fehlt.s

a korr. aus: Schüher; b eingef.: die; c eingef.: entliehenen; d eingef.: sind; f eingef.: mich; g eingef.: kaum; h korr. aus: Du; i eingef.: ebenfalls; j eingef.: in Bezug auf die Frage; k eingef.: aurita; l eingef.: entgegengesetzten; m korr. aus: auseinanderkönnen; n Text weiter am unteren Rand von S. 2 u. 3: * Da sich … auf den; o eingef.: hier in Baÿern; p eingef.: den; q korr. aus: an; r eingef.: bisher; s Text weiter am unteren Rand von S. 4: katholischen Gymnasien … nicht fehlt.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
04.11.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15303
ID
15303