Eduard Strasburger an Ernst Haeckel, Nizza, 13. Januar 1877
Nizza d 13/1 77.
Theurer Freund!
Eben fällt mir ein, dass demnächst unser Lections-Catalog für das kommende Semester gedruckt wird; bitte, sende dann gleichzeitig mit Deiner Anzeige auch die meinige ein und zwar, um die Sachen zu vereinfachen, den entsprechenden Ausschnitt aus dem vorjährigen Sommer-Verzeichnisse, da ich die gleichen Vorlesungen zu halten gedenke. || Ich habe neulich einen Brief von Seebeck erhalten, weiss also ungefähr was in Jena vorgeht – von der rosa Seite – sehne mich aber nach Nachrichten von Dir! Wie sieht es in der Facultaet und im Senat aus? Wie macht sich M. Schmidt als Magnificus? Wie steht es um die neuen Wahlen? –
Man berichtet uns aus dem ganzen Norden über merkwürdig warme Witterung – hier blühen bereits die Mandelbäume. Wir hatten die || letzten 14 Tage ziemlich trübes Wetter, heut dafür wieder einen so herrlichen Tag, dass er uns für die ganze schlechte Zeit vollauf entschädigt. Ich komme eben aus Antibes zurück wo ich Algen sammelte, ausserdem, vom Leuchtthurme aus, einen Sonnenuntergang genoss, wie er nur am Mittelmeer möglich. Der Mont-Estéreli war von Gold und Purpur übergossen und im Westen glühten die schneebedeckten Gipfel der Seealpen. Fern im Meere tauchte Corsica wie ein Schatten auf. Der Himmel hatte || am Horizont eine apfelgrüne Färbung und die See war spiegelglatt. Ach! dass man solche Augenblicke nicht ewig festhalten kann und sich dann sein Lebelang danach sehnen muss! – Wie werden wir nur im nächsten Winter den bleifarbenen Himmel Norddeutschlands ertragen können, und was soll uns dort das Mittelmeer ersetzen, dass sich hier in seiner ganzen Unermesslichkeit vor unseren Fenstern ausbreitet.
In Jena sind noch 4 bis 5 Monate Winter in Aussicht, und so rechne ich fast darauf dass Du Anfang März die Bücher von Dir wirfst und zu uns kommst das Leben wahrhaft zu geniessen. Du solltest auch Deiner lieben Frau einmal Italien zeigen.
Mit herzlichem Gruss
Dein E. Strasburger