Sousek, Franz

Franz Soucek an Ernst Haeckel, Brandau (Böhmen), 26. Dezember 1900

Brandau, Bezirk Brüx, Böhmen. Am 26.12.1900.

Euer Hochwohlgeboren!

Geehrtester Herr Rector!

Im Besitze Ihres herrlichen Werkes: Die Welträthsel, das ich seit einem Jahre fleißig studiere, erlaube ich mir Sie auf meine Anschauungen bezüglich der Selbst- und Nächstenliebe (zu Kapitel XIX besagt. Werkes) aufmerksam zu machen, wie ich mir selbe seit einigen Jahren zurecht gelegt habe, komme dabei zuerst auf ihr herrliches Werk zurück.

Sie betrachten die Selbst- und Nächstenliebe als zweierlei verschiedene Pflichten (S. 404) und auf Seite 408 kommen Sie zu dem Ergebnisse, daß man sagen könne, daß die Nächstenliebe eine verfeinerte Selbstliebe sei.

Ich dagegen behaupte: „Man muß den Nächsten lieben (nicht seiner wegen, sondern) als Liebe zu sich selbst.“ Da ich in der Erfüllung dieses Grundsatzes die Weltglückseligkeit erblicke, war ich – als Volksschullehrer – bemüht, den Beweis hierfür so anschaulich zu führen, daß er auch für die großen, aber so trägen Massen der Menschen überzeugend wirke. Leider habe ich bis jetzt nichts gefunden, || was mich gänzlich befriedigen würde. Ich bin der festen Überzeugung, daß sich besagter Satz in eine exacte mathematische Formel wird kleiden lassen, daß auch die Planmetrie, richtiger noch die Stereometrie das Feld sein dürfte, auf dem die Anschauung zu ermöglichen wäre. Leider habe ich zu ruhigem Nachdenken infolge beständiger Störung durch Berufsgeschäfte keine rechte Zeit u. so bin ich denn bis heute auf folgende Erklärung bezw. Beweisführung für die unumstößliche Nothwendigkeit und Wahrheit des besagt. Grundsatzes angewiesen geblieben:

Kein Mensch kann alle seine Bedürfnisse durch sich selbst befriedigen. Er muß hierbei die Mithilfe seiner Nebenmenschen (Nächsten) in Anspruch nehmen. Denkt man sich nun jedena Menschen mit seinen Begierden dargestelltb als Kreis (besser Kugel), von dessen Peripherie die Begierden als Radien gegen ihn umgebende Begierdenfiguren seiner Nebenmenschen ausstrahlen, so findet man, daß manche Begierde nur wenige Begierdensphären der Nächsten treffen, manche aber alle kreuzen. Je weniger also der Mensch Begierden hat, desto leichter wird er glücklich werden können, weil er nur wenige Begierdensphären der Nächsten durchkreuzt u. deshalb von diesen Nächsten nicht oder nur wenig in der Befriedigung seiner Begierden gestört wird. ||

Jeder Mensch will glücklich, will zufrieden sein. Das ist er nur dann, wenn der Erfüllung seiner Wünsche von den Nächsten wenig od. kein Widerstand entgegengesetzt wird. Was aber hier von mir gilt, gilt ebenso von meinem Nächsten. Würden also alle Menschen trachten, ihre Nächsten glücklich zu machen, so würden diese Nächsten, da ihre Begierden befriedigt sind, mich in Ruhe meine Begierden befriedigen u. auch damit glücklich werden lassen.

Den reinen Egoismus könnte man die subjective Ich-Liebe, den Altruismus dann eventuell die objective od. besser vielleicht die rückwirkende Ich-Liebe, heißen, da alles Gute, was ich zum Glücke meines Nachbars thue, mir insofern zugute kommt, als der Nachbar mich – so er glücklich ist – in der Befriedigung meiner Wünsche ungestört walten läßt.

Aus meinem Glückseligkeitsprincipe läßt sich auch die Erscheinung der rein egoistischen „Realpolitik“ ableiten ( S. 409). Denn hier stehen einanderc nur 2 Interessensphären gegenüberd, die noch dazu als Staatsgebilde (bezw. irgendwelche Vereine) durch ihre Verfassung ganz genau gegebene Interessensphären besitzen. Hier kommt dann die Erscheinung zur Geltung, wonach vone zwei auf einem verschlagenenf Schiffe befindlichen Menschen der eine (er mag noch so altruistisch gebildet sein), der stärkere, den schwächeren || Menschen aufzehrt.

Ins Unmögliche gelangt man, mit der vollständigen Negation meines Grundsatzes, indem man annimmt, daß jeder Mensch unbekümmert um das Wohl seiner Nächsten und gegen den Willen derselben nur seinem Wohle, der Befriedigung seiner Bestrebungen nachginge. So gäbe das einen Kampf aller gegen alle.

Daß die Nächstenliebe stets, wenn aus [!] ungewollt, doch unbewußt aus Selbstliebe geübt wird, istg durch die innere Befriedigung erklärlich, die sich dessen bemächtigt, der Werke der Nächstenliebe vollbracht hat, und je uneigennütziger das geschehen, desto größer ist die innere Befriedigung, der innere Lohn, der den Menschen in Gestalt von Zufriedenheit mit sich selbst mehr entlohnt als alles andere. Also schon dash unbewußte Erwarten der Selbstzufriedenheit – des Lohnes – ist die rein egoistische Veranlassung des selbstlosen Altruismus, der somit im causalen Verhältnisse mit dem erstgenannten steht, der sich stets als eine Folge, dessen Grund der Egoismus ist, darstellt.

Auf die Frage (S. 409) zurückkommendi, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl man vereinzelten Menschen das altruistische Sitten-Ideal: [Satz bricht ab] ||

Nur ganz alleinj dem Drang seines Herzens in Bethätigung der Nächstenliebe zu folgen (ob der reinen od. der rückwirkenden – vielleicht der berechnenden, drumk klugen (weltklugen genanntl) hört schon bei der Vereinigung von mindest 2 Personen auf (z. B. in der Ehe, in der Familie, weil hier Rücksichten auf die Mitglieder genommen werden müssen und weil, wenn das nicht geschieht, man bei Ausübung der Nächstenliebe selbst unzufrieden würde durch die Vorwürfe der Angehörigen).

Sobald sich 2 od. mehrere Personen vereinigen, geschieht das stets aufgrund eines Vertrages, der dann Statut event. bei Staatsgebilden Gesetz heißt.

Bei der Auffindung der Staatsgesetze tritt der Egoismus der Bürger stets sehr stark hervor. Der Staat darf, an die stricte Einhaltung seiner Gesetze gebunden, nicht Humanität, nicht Altruismus üben, wenn er dabei mit seinen Gesetzen in Conflict geräth. Aber auch irgend ein Verein darf dies aus analogen Gründen nicht thun, weil er – abgesehen von der sofort in Erscheinung tretenden Unzufriedenheit seiner Mitglieder – von stats wegen aufgelöst werden kann, sobald er seine Statuten nicht erfüllt.

Vereinigungen, aus rein egoistischer, rücksichtsloser Ausbeutungssucht gegründet, z. B. die Cartelle, Ringe etc. sind darum so sehr von den Menschen gehaßt u. umgekehrt entstehen dieselben leicht, weil die einzelnen Mitglieder solcher Vereinigungen, ob in Selbsttäuschung od. um andere zu täuschen, jede Schuld der Erpressung von sich abweisen. || Ja, als Mitglied so einer Vereinigung darf der einzelne gar nicht Altruismus betreiben, weil er sonst in Widerstreit mit den übrigen Mitgliedern der Vereinigung geräth.

Die bewußte Zahl wird sich, wenn man die uncultivirten Völker mit berücksichtigt, wohl mathematisch nie feststellen lassen. Es kommt nicht auf die Zahl hierbei an, sondern darauf, in welchem Geiste der Vertrag einer Vereinigung abgefaßt ist, ob im rein egoistischen od. theilweise im altruistischen. Daß, je größer die Vereinigung, desto wahrscheinlicher ihre Gesetze rein egoistisch sein werden, ergibt sich nach dem Gesagten daraus, daß je mehr Menschen vereinigt sind, desto leichter es dem Einzelnen wird, sich bei egoistischen Handlungen der Vereinigung zu der er gehört, sich auf diese bezw. ihre Gesetze ausreden zu können dabei, sich die bekannte Thatsache zugute machend, daß Gesetze (Statuten) nie der Ausdruck aller Mitglieder sind, sondern der der Majorität.

Sein Werden dankt der Mensch einem Acte, in welchem die Selbstliebe, durch Befriedigung seiner Begierde, in intensivster Form zur Geltung kommt. In seinen Eltern liebt er sich selbst ebenso gut wie in seinen Nachkommen, da letztere ein Theil seines „Ichs“ sind, er aber ein Theil seiner Eltern ist. ||

Der Mensch dankt also sein Leben den Egoismus, entsteht im Zustande des Egoismus, erbt denselben sonach von den Eltern. Der Selbsterhaltungstrieb ist nichts als Egoismus. Wird der Altruismusm nun in causale Abhängigkeit von ersterem gedacht, so entsteht eine Vereinfachung des bezügl. Naturgesetzes, statt zweier, gilt dann nur eines.

Diese Causalität aber wieder wird so zur wichtigsten Grundlage der Moral, da es dann nichtn nothwendig ist, auf einen „höheren“ Lohn bei Ausübung der Nächstenliebe zu warten, zu „hoffen“, da dieselbe eintreten muß, wenn jeder Mensch sein Thun u. Lassen stets mit Rücksicht auf das Wohl des Nächsten ausüben wird. Das läßt sich beweisen. Das Transcendente, das dem Altruismus stets anhaften wirdo, sofern man ihn als etwas anderes als berechnendenp Egoismus od. gar als Gegensatz zum Egoismus darstellt, verschwindet sofort und verwandelt sich in reale Nothwendigkeit; von dieser dürfte man die Massen leichter überzeugen können, als davon, daß dem Ausüben der Nächstenliebe ein besonderer transcendenter Lohn in Aussicht gestellt wird.

Die Consequenzen des Leitsatzes bedingen andere, als die gebräuchlichen Erklärungen für unsere Moralgesetze, denn dann würde es nicht als etwas extra Lohnenswertes, Anstaunenswertes angesehen werden müssen, wenn jemand Nächstenliebe übt, q weil die Ausübung derselben ein Gesetz der || „Klugheit“, weil Nothwendigkeit wäre. –

Bei Reformierung des Schulwesens würde ich verlangen, daß so wie heute jedem Menschen Gelegenheit geboten ist Rechnen, Lesen u. Schreiben zu lernen, ihm der Weg freistehen müßte, zu lernen, wie man „richtig“ Kinder erzieht. Die „Erziehungslehre“ müßte ein Lehrgegenstand der letzten 2 Jahre der Volksschule (13. oder 14. Lebensjahr der Mädchen) so lange bilden, als die obligatorische Fortbildungsschule für beide Geschlechter (bis zum 18. Lebensjahr) nicht eingeführt ist, in welcher diese Unterrichtsdisciplin einen Hauptgegenstand bilden müßte; denn eben so berechtigt wie unsere Kirche verlangt, daß zwei in den Ehestand tretende Menschen den „Katechismus“ kennen müssen, kann der Staat verlangen, daß jeder sich verehelichende Staatsbürger (insbesond. einstweilenr weiblichen Geschlechts, weil von diesen die Ehemänner lernen würden) die nothwendigsten Kenntnisse in den Grundsätzen der Erziehung nachweist. Das Erziehungsgeschäft zu betreiben sind die Menschen sicherer berufen, als zu Rechnen, Lesen, Schreiben, als Geographie u. s. w. zu verwerten. – Doch müßte die Erziehungslehre aufgrund reiner, nicht confessionell beeinflußter Moral betrieben werden. –

Euer Hochwohlgeboren! Was geschrieben ist, geschieht „im Vertrauen“, da mir die Nennung meines Namens in der Öffentlichkeit als „kathol.“ Lehrer sehr schaden könnte u. ich als solcher „geprüft“ sein muß (u. bin), um Oberlehrer sein od. werden zu können. – Doch würde ich mich unendlich freuen, eine Kritik meiner Anschauung bezügl. des Egoismus, wie ich selben auffasse kennen zu lernen. – Wie unendlich bedaure ich, daß meine financielle Lage mir (bei 7 Kindern) nicht gestattet, die Werke, die Euer Hochwohlgeboren als Lectüre empfehlen, anschaffen zu können. – Bitte sehr meine Freiheit zu entschuldigen und zeichne in tiefster Hochachtung als Ihr wärmster Verehrer

Franz Soucek, für Bürgerschulen (mathemat.-techn. Gruppe) geprüfter Oberlehrer an der Volksschule in Brandau (in Böhmen). –

a gestr.: den, eingef.: jeden; b eingef.: dargestellt; c eingef.: einander; d eingef.: gegenüber; e eingef.: von; f eingef.: verschlagenen; g eingef.: ist; h eingef.: das; i eingef.: zurückkommend; j eingef.: ganz allein; k eingef.: der berechnenden, drum; l eingef.: genannt; m gestr.: Egoismus, eingef.: Altruismus; n eingef.: dann nicht; o eingef.: stets anhaften wird; p eingef.: berechnenden; q gestr.: wen; r eingef.: einstweilen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.12.1900
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10962
ID
10962