Kamphausen, Gustav H...

Gustav Kamphausen an Ernst Haeckel, Krefeld, 6. November 1900

Krefeld d. 6 Nov. 1900

Geehrter Herr Professor!

Gestatten Sie einem Manne einige Bemerkungen über Ihr Buch „Die Welträthsel“, welcher zwar nicht Naturforscher von Profession ist, dagegen seine freie Zeit benützte um sich alles Wissenswerte in der Natur und aus Büchern anzueignen.

Ihr Buch bestätigt die Hauptideen, die ich schon längst mir selbst über die Natur machte: vor Allem, daß der Stoff ewig lebt, dann die zwingende Annahme, daß das Weltall unendlich ist. Beide Lehrsätze sind erklärlich, wenn man wahrnimmt, wie alle Lebensvorgängea in der Natur nur Formveränderungen sind; das Werden heißt Zusammenkommen der Zellen oder Atome, das Vergehn bedeutet nur Trennung derselben. ||

Es freut mich hierin mit Ihnen vollständig einig zu gehn. Dagegen hinterläßt Ihr Buch nach meiner Ansicht einen den ganzen Wert schmälern den Eindruck. Was Sie nämlich bezüglich der Vorsehung schreiben, macht auf mich den Eindruck des Zwecklosen nicht nur der ganzen Welt, sondern auch des Menschendaseins. Dabei könnten Sie diesen Eindruck ganz gut verhüten ohne im Geringsten Ihren Lehren Abbruch zu thun.

Man kann doch diese Urkraft die das ganze Weltall belebt, ruhig Vorsehung nennen, eine Kraft die bewirkt, daß Alles ein Ende nehmen muß. Diese Vorsehung ist sogar eine gerechte, denn sie bewirkt doch, daß Alles was sich verbindet, sich auch wieder trennen muß, und Zusammenkommen || bedeutet nach meiner Phylosophie Lust, dagegen Trennung ist Schmerz: also beides hebt sich im Organismus auf!

Es ist meine feste Überzeugung daß diese Vorsehung nichts Anderes ist, als das Produktb der eigenen Willenskraft des Individuums und derjenigen Zweiten Kraft, welche auf dasselbe einwirkt ohne in der Gewalt desselben zu liegen.

Dies alles ist bei mir nach jahrelangem Denken zur Gewißheit geworden; wie Sie sehen sind meine Ideen nur eine Ergänzung, nicht eine Änderung der Ihrigen. Der Mensch, welcher leidet will einen Trost haben. Den Himmel nimmt ihm die Wissenschaft, dafür muß sie ihm aber zeigen, daß in diesem Dasein wirklich Keiner || vor dem Andern bevorzugt ist. Dann wird dieser Mensch von selbst schon den Kampf um die Güter dieses Daseins berechtigt und zweckmäßig finden.

Ich bitte Sie zum Schlusse noch ergebenst meine Freiheit mir nicht verübeln zu wollen: nur der vorzügliche Wert Ihres Buches veranlaßt mich zu diesem Schreiben.

Sollten Sie einige Worte für mich übrig haben, es würde mich sehr freuen und ehren.

Mit Hochachtung!

Gustav Hch. Kamphausen

in Firma: G. Kamphausen & Co.

Seidenwaarenfabrik

a korr. aus: alles Leben; b eingef.: das Produkt

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.11.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10955
ID
10955