Schering, Gustav

Gustav Schering an Ernst Haeckel, Berlin, 24. Mai 1900

Berlin W. Bülowstr. 49III 24 Mai 1900

Hochgeehrter Herr Professor!

Vorgestern hielt der, auch unter Ihrer freundlichen Aegide hier kürzlich gegründete Giordano-Brunobund dessen Mitglied ich wurde, seine erste Versammlung ab, über deren Verlauf Ihnen ohne Zweifel von zuständiger Seite referiert werden wird. Als schlichter Privatmann (geb. 1834) aber langjähriger Freidenker und Anhänger des von Ihnen, Büchner und anderen Unerschrockenen vertretenen philosophischen Monismus kann ich einige Bedenken über die von dem vortragenden Hrn. Dr. Bruno Wille dem Thema: Goethes Ausspruch „Materie nie ohne Geist (G. n. o. M)“ hinzugefügten Erläuterungen nicht unterdrücken, die auch zur Veranlassung meines heutigen Briefes wurden.

Jene warnen: – die Verwerfung des Ausdrucks oder Begriffs „Kraft“ in der Auffassung der Materialisten statt „Geist“, welcher letztere der „richtigere“ sei etc. – Wir Unterrichteten lehnen wohl jede Wortklauberei über physiologisch genügend beleuchtete Dinge ab, aber grade einem Hörerkreis gegenüber, der zum grösseren Theil noch belehrt sein will oder muss, und nun gar den fast ebenso zahlreich erschienenen Damen! gegenüber, die bekanntermassen bei ihrer vorwiegenden Gefühls-Cultur die kirchlichen Suggestionen schwerer überwinden, sollte man grade die naturwissenschaftlich und philosophisch richtigere Bezeichnung „Kraft“ oder „Eigenschaft“ hervorheben und mit Nachdruck betonen, dagegen das mystisch angehauchte || Wort „Geist“ nicht psychologisch am Platze, thunlichst vermeiden. Nichts hat wohl seit undenklichen Zeiten mehr Verwirrung hervorgebracht, Dummheit und Aberglauben befördert, als die allgemeine u. uneingeschränkte Anwendung dieser dämonisch wirkenden 5 Buchstaben, dem Vater des Dualismus, Spiritualismus und der damit in Verbindung stehenden religiösen Verrücktheiten. Der Gedanke des Vorhandenseins dieses halb abstract halb concret gedachten Sonderwesens spukt noch mehr oder weniger in den meisten Köpfen, auch in denen der sogen. „Aufgeklärten“. Diesem phantastischen Bilde sollte thunlichst der Boden durch nüchterne exakte philosophische Belehrungen entzogen werden, ihr nicht wie im sonst respectablen Vortrage – gewiss unabsichtlich – Vorschub geleistet werden. – Der Eindruck, den ich in dem Abschnitt über die „chaotischer Materie“ u. „Geist“ empfing war der: „die erstere ist die Mutter, der Geist der Vater eben beide untrennbar verbunden.“ Daraus bildet sich Publikum die confuse Vorstellung eines dualistischen Monismus bez. eines monistischen Dualismus. Diesen verdammungswürdigen Dualismus finden wir ja auch noch in dem ebenfalls hoch cultivierten Symbolum „Herz“ der poetischen Lüge der ganzen Menschheit, erfunden von den Dichtern und Pfaffen als weitere Säule für den Dualismus im Menschen. Bei diesem heißt es aber „noli me tangere“, denn was wäre schrecklicher, als einen Krieg der beiden Geschlechter heraufbeschwören, wenn es heissen könnte: ich grüsse Sie von ganzer Leber“ etc. Die Herz-Seele sitzt nicht || im Grosshirn nach allgemeinen Glauben, sondern eben im Herzen sonst hätte ja das Göttliche neben des Teufels ebenso H… der Vernunfta und das kann ja nicht statuiert werden. Goethes’ Gedanken über die Materie und die Form kamen in flüchtige Erwähnung, ohne grade den Einheitsgedanken zu kräftigen. Wir beugen uns Alle vor dem gewaltigen Denker der damaligen Zeit; es wäre aber traurig, wenn wir seitdem nicht Fortschritte in der Naturerkenntniss gemacht hätten. Goethe konnte s. Z. der Unerreichte sein, heute ihn als naturwissenschaftlichen Messias anbeten, würde ebenso verfehlt sein wie Kant als solchen in der Philosophie anzusehen.

Die mehr als flüchtige Erwähnung des nur halb zurechnungsfähigen Modephilosophen mit seinem Schlagwort Übermensch schien mir eine kleine Concession gegen die vielen Damen zu sein, die mit Vorliebe für krankhafte Genies’ schwärmen, da sie selbst gern „Übermenschliches“ leisten! Recht am Platze hätte ich gefunden einen Vortrag über die „Wahrheit“, oder wenn Musik und dramatischer Wortklang (letzterer degoutiert mich bei philosophischen Literaten) als befördernde Factoren für den Aufschwung des Vereins gehalten werden, einen Hymnus auf d. Wahrheit. Goethe hat ja der Kernsprüche darauf genug hinterlassen. Der Enthusiasmus für die Wahrheit, unterhalten von dem tiefen Durchdrungensein der allein massgebenden vernunftgemässen wissenschaftlichen Ergebnisse, kann uns Brunobündlern nur allein die nöthige Festigkeit und zähe Widerstandskraft geben in dem uns bevorstehenden harten Kampfe des z. Z. noch allmächtigen von oben herab protegierten Dualismus und Spiritualismus gegen die monistische Weltanschauung auszuharren und der || Letzteren die Wege zu weiterer Entwickelung zu bahnen. Dann wird ja auch die überall sich brüstende heuchlerische religiöse Lüge allmählich aus dem socialen Leben verschwinden. Sehr günstig für ein weiteres Gedeihen unseres jungen Bundes wäre es, wenn die beiden Heroen der Aufklärung Darwin und Haeckel bald auf dem Programm ständen. Dürfen wir Sie nicht bald erwarten? Ihre „Welträthsel“ lese ich mit höchstem Interesse, und empfehle sie, soweit mein Einfluss reicht. Sehr würde ich mich freuen, eine Meinung von Ihnen über Obiges zu hören, selbst wenn sie eine Correctur enthielte (Vielleicht findet sich gelegentlich ¼ Stündchen), zu welchem freundlichen Vorhaben ich meine Adresse anliegend beizufügen mir erlaube.

In Verehrung Ihr ergebener

Gustav Schering

Privatier

a eingef. der Vernunft

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.05.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10945
ID
10945