Wyhs, Fr...

Friedrich Wyss an Ernst Haeckel, Burgdorf (Schweiz), 16. April 1900

An Herrn Dr. Ernst Haeckel, Professor

in Jena

Hochgeehrter Herr Professor!

Ihr herrliches Buch, „die Welträtsel“ habe ich mit großer Freude gelesen. Ich bin so frei, Ihnen meine Schrift: „Humane Ethik“, zugehen zu lassen, u. ich hoffe, sie werden Zeit finden, sie zu prüfen. Prof. Dr. L. Büchner von Darmstadt hat mir wenige Monate vor seinem Ableben geschrieben: „Ich habe Ihr schönes Buch mit großem Interesse gelesen u. wünsche ihm die weiteste Verbreitung.“ –

Aber leider, leider! Eben diese Verbreitung fehlt! Dieses Buch, das aus meinem Studium der monistischen, modernen Ethik (Carneri, Höffding, Gizycki, Jodl, Coit, Fr. Adler, Salter etc.) hervorgegangen, u. das || den Stoff für die Oberstufe der Volksschule methodisiert darbietet, wird eben von den kirchlich Gesinnten nicht angenommen. Die Geistlichen sind meistens in den Lokal-Schulbehörden u. unsere Gesetze schreiben noch den althergebrachten Religionsunterricht vor, darum hat mein Buch einstweilen wenig Aussicht. Mit Ihren Ideen über die „monistische Religion“ (p. 383) stimmt mein Buch vorzüglich, es stützt sich auf Naturerkenntnis u. Vernunft, es feiert die Dreieinigkeit des „Wahren, Guten u. Schönen“ u. empfiehlt die Harmonie zwischen Egoismus u. Altruismus.

Aber nach dem Bericht meines Verlegers sind von 2500 Exempl. nur 600 abgesetzt worden u. sind noch 700 Frs. ungedeckte Kosten! Von Honorar für meine zweijährige Arbeit natürlich keine Spur!

Viele Lehrer sind eben zu schlecht besoldet, als daß sie solche Bücher, die sie nicht gerade nötig zum Unterricht haben, kaufen könnten.

Einen kleinen „Mäcen“ hat das Buch in Zürich gefunden, wo ein Schriftsteller u. Mitglied der „Ethischen Gesellschaft“ 100 Exemplare gekauft hat, um sie || an Lehrer billig abzugeben.

Vielleicht können Sie durch eine Rezension etwas für mein Buch thun. Vielleicht gelingt es Ihnen, einen „Mäcen“ auf dasselbe aufmerksam zu machen. Wenn ein solcher mich, der ich 45 Jahre im Dienste der Volksschule gearbeitet habe u. darum nicht begütert bin, in Stand setzte, 1000 Exemplare unter die Volkslehrer gratis verteilen zu lassen, das wäre für diese Sache schon etwas erreicht.

Bis aber in Deutschland u. der Schweiz der Ethik-Unterricht als obligatorisches Fach in die Volksschule eingeführt wird, braucht es noch viel Opfer u. Anstrengung.

Mit vorzüglicher Hochachtung!

Fr. Wyhs

Schulinspektor a. D.

Burgdorf

(Schweiz)

den 16. IV. 1900.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.04.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10926
ID
10926