Schalk, H... J... van der

H. J. van der Schalk an Ernst Haeckel, Mailand, 24. September 1903

Mailand, 24 September 1903.

Via Monte di Pieta 11

Herrn Professor E. Häeckel, Hochwohlgeboren

Jena.

Hochgeehrter Professor. Als der Unterzeichnete im Jahre 1870 in der Gewerbebibliothek in Essen a. d. Ruhr, wo er als Ingenieur thätig war, Ihr bahnbrechendes Werk „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ in Hände bekam, stand er auf dem folgenden Standpunkt:

Als Techniker war ihm die Naturwissenschaft nicht unbekannt; als Privatstudent hatte er sich gestützt auf van Vloten’s anregendem Werk, dem Studium von Spinoza ergeben, und durch Veranlassung von Lerres’ Biographie von Goethe, sich näher in das Studium des Letzteren vertieft. Dermassen vorbereitet, war ihm das Studium Ihrer Schriften eine unentbehrliche Ergänzung um zu einer harmonischen monistischen Anschauung zu gelangen.

Jetzt, nach 33 Jahren, kamen mir dieser Tage Ihre „Welträthsel“ in Händen, und begrüsse ich darin den Ausbau des Monismus in einer Vollendung, wie ich sie zur Zeit noch nicht für möglich gehalten hatte. Während ich nun in den jüngeren Jahren einfach – wenn auch mit warmer Verehrung für den Urheber – den Ihrerseits ausgestreuten Samen in mich aufgenommen, fühle ich dagegen diesmal das Bedürfniss Ihnen meine Einstimmung unumwunden kund zu thun, und den Augenblick herbei zu sehnen, dass diese Ihre Quintessenz des Monismus allgemein bei allen Culturvölkern || als die wahre Grundlage gründlicher Naturforschung anerkannt werde, auch die Nicht Wissenschaftlich Vorgebildeten erleuchte und den Forschungstrieb Unbevorurtheilter heranziehe.

Mit besonderer Vorliebe verfolgte ich in Ihrer Arbeit auch diejenige Entwicklung die Bezug hat auf die Seele, deren naturwissenschaftliche Behandlung augenblicklich wohl am meisten verpönt ist aufgrund der jetzt leider vorherrschenden conservativen Gesinnungsrichtung.

Eine eigenthümliche Frage beschäftigt mich gegenwärtig, worüber ich gern Ihr maasgebendes Urtheil vernehmen möchte. Die Fortbildung des Menschengeschlechts ist wohl in erster Linie zu erwarten von der Vervollkommnung des Gehirns; es scheint dabei ohne wesentlichen Einfluss zu sein dass gewiss Sinnesorgane – wie Tast- und Geruchssinn – einer Art Rückbildung anheim fallen; es fragt sich jedoch ob noch sonstige Fortbildung morphologisch möglich sei zum Vortheile des künftigen Culturmenschen.

Es ist mir auffallend, dass beim Vogel eine einzige Öffnung äusserlich dient zur Beseitigung der festen und flüssigen Excremente. Beim Säugethier dagegen dient je eine gesonderte. Als Wirbelthier betrachtet, gilt dies als eine Differenzirung. Nur ist diese noch nicht zur vollständigen Ausbildung gelangt, weil eine der beiden Öffnungen, ausser zur Ausscheidung der flüssigen Excremente, nocha als Organ der Fortpflanzung b dienen muss. ||

Falls nun für die Zukunft noch eine weitere Differenzirung in Aussicht stände, wobei dem sexuellen Zwecke ein besonderes ganz getrenntes Organ zufiele, so dürfte das als ein wesentlicher Fortschritt zu betrachten sein. Rührt doch von dem Zusammenfallen beider der Übelstand her, dass die edele Funktion der Fortpflanzung im Allgemeinen in gemischtem Licht erscheint, weil für oberflächliche Betrachtung Unreines dabei hervortritt.

Ich meine dass der geschulte Biolog sich über die Möglichkeit einer solchen Weiterentwicklung aussprechen kann, und vielleicht auch bei anderen Thiergattungen Beispiele dafür kennt, dass Umwandlungen oder Missgeburtc in obengenanntem Sinne bereits vorgekommen sind. Dagegen besteht vielleicht ein Grund d, dass die menschliche Gestalt nunmehr als definitiv und unabänderlich zu betrachten ist, und keiner solchen erheblichen Abänderung mehr fähig als oben erwähnt. Wäre dies so, so müsste man nicht versäumen auch von diesem Gesichtspunkt aus, die Unvollkommenheit des Menschen ins hellste Licht zu stellen, damit die Lehre von der Erschaffung des Menschen nach Göttlichem Vorbilde in ihrer völligen Inhaltslosigkeit wonöthig noch schlagender dargelegt werde.

Vielleicht ist jener Theil der Entwicklungslehre „Mutation“ genannt berufen uns in obigem weiter zu bringen.

Sollte obiger Gedanke einigermassen fruchtbar sein || so möchte ich dies gern erfahren. Sonst möchte ich Herr Professor, Ihre kostbare Zeit nicht in Anspruch nehmen durch eine Erwiderung Ihrerseits.

Mit den aufrichtigsten Wünschen, dass es uns beschieden sein möge Sie noch lange an der Spitze der Vorkämpfer für wahre Erkenntniss erhalten zu sehen, zeichnet in unabänderlicher Verehrung und Dankbarkeit

Ihr ergebener

H. J. van der Schalk

a eingef.: noch; b gestr.: noch; c eingef.: oder Missgeburt; d gestr.: dafür

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
24.09.1903
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10910
ID
10910