Bentele, Elisbeth

Elisabeth Bentele an Ernst Haeckel, Mexico, 17. Mai 1901

Mexico, d. 17. 5 1901.

Hochgeehrter Herr Doktor!

Auch hier in Mexiko hat Ihr Werk „die Welträtsel“ seinen siegreichen Einzug gehalten, und nach dem schnellen Vergriffensein des Buches zu urteilen, viele Anhänger gefunden. Was in tausenden und Millionen Seelen in mehr oder weniger klarer Form lebte und webte, dem haben Sie, verehrter Meister, die einheitliche Fassung gegeben, wie es ja nur dem möglich ist, dessen umfassende Studien ihm die verschiedensten Gebiete der Natur erschliessen und in Ursache und Wirkung einen Einblick verschaffen. Wir andern Sterblichen, zumal die gewesene „höhere Tochter“, sinda darauf angewiesen, ge-||legentlich hingeworfene Streiflichter der Gelehrten, die auf Treu und Glauben als richtig angenommen werden, zu einem Bilde zu vereinigen, – wenn nämlich der deutsche Lehrer der ersten Klasse ein ehrlicher Mann gewesen ist, dem die Aufklärung der ihm anvertrauten Seelen mehr am Herzen gelegen hat, als die Gunst des brotgebenden Direktors, und zu seinen Schülerinnen den Trieb zum Suchen nach Erkenntnis eingepflanzt hat. Gleich mir werden also wohl viele Tausende voll Dankes auf den Mann blicken, der Klarheit und Einheitlichkeit in ihr wirres Denken gebracht hat und würde diese Empfindung allein mich nicht berechtigen, Sie durch diese Zeilen eines Teiles || Ihrer kostbaren Zeit zu berauben. Nun aber bin ich über einen Punkt nachdenklich geworden und möchte Sie, verehrter Herr Doktor, um Aufklärung bitten. An einer Stelle Ihres Buches sagen Sie, daß alle anderen Unterschiede zwischen Thier-und Pflanzenzelle sich auf der untersten Stufe verwischen, und das nur das eine Merkmal übrig bleibt, daß die Pflanzenzellen sich von unorganischen, mineralischen Stoffen zu ernähren und diese in organische umzusetzen vermögen, während die tierische Zelle dieses niemals kann, sondern sich von organischen, pflanzlichen oder tierischen Stoffen ernährt, und diesen die zu ihrem Aufbau nötigen Bestandteile entzieht. Gut, diese Thatsache sollte bekanntb sein, und niemand sollte sie leugnen können. – An ande-||rer Stelle jedoch lese ich, daß Sie prakt. Arzt seien oder gewesen seien. Wie aber verträgt sich Ihre ärztliche Thätigkeit logischer Weise mit jenem oberen Cardinal-Unterschied zwischen Pflanze und Tier? Geben Sie als Arzt Ihren Patienten nicht Medizin, also mineralische Stoffe und Gifte, damit derselbe sie verdaue? Setzen Sie da nicht beim tierischen Magen pflanzliche Eigenschaften voraus? Halten Sie es z. B. für richtiger, einem Blutarmen Eisenpillen zu geben, die er doch nach obigem Satz niemals zu verdauen vermag, oder ihm die eisenhaltigen Erdbeeren zu verschreiben, die er zu verdauen und deren Eisen sein Magen den Blute zuzuführen vermag? Billigen Sie die Antwort der Ärzte auf die Frage, wie es nur möglich ist, daß || ein kranker Magen so viel Medizin aufnimmt, während ein gesunder derselben in irgend einer Weise Widerstand entgegengesetzt? – daß der kranke Magen mehr aushalten könnte, als der gesunde?

Allerdings kann man ja auch einem kranken Lasttier mehr aufladen als einen gesunden, aber doch nur, weil es sich nicht zu wehren vermag.

Wie vereinigen Sie, verehrter Meister, den Beruf eines Arztes mit Ihrer Logik? – Glauben Sie auch, daß der kaum erkenntlich hervorragende Eckzahn den Menschen zum Raubtier prädestiniert, oder sollte er nicht viel mehr eben genügen, um beim Knacken der Nüsse gute Dienste zu leisten? Abgesehen davon, daß das rohe Fleisch dem Men-||schen Ekel einflösst (seine ihm von der Natur bestimmte Nahrung? wie wunderbar – jedenfalls ein Ausnahmefall!)

Kann überhaupt die Natur gekochte oder gebratene Nahrung für den Menschen gewollt haben? – Denn vorläufig sind wir doch Natur- und keine Kunstprodukte.

Ich hoffe, bei Ihnen, hochgeehrter Herr Doktor, Verständniss für mein Ringen nach Erkenntnis zu finden, und bitte Sie, mir zu helfen, diese Widersprüche zu lösen, wenn anders eine ungelehrte und mit der Feder wenig gewandte Frau, wie ich, Ihnen genügend Interesse einzuflössen vermag.

Voll Hochachtung und dankbarer Verehrung

Frau Elisabeth Bentele

2a del Fresno No. 3.

Mexico, Dist. Fed.

a gestr.: ist; eingef.: sind; b eingef. bekannt

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.05.1901
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10808
ID
10808