Benedikt, Moritz

Moriz Benedikt an Ernst Haeckel, Wien, Anfang März 1918

Wien, Anfangs Märza 1918.

Hochverehrter Meister!

In einer Zuschrift vom 4/2 ds. J. versprachen Sie mir eine eingehende Beantwortung meines offenen Briefes. Inzwischen erhielt ich die schmerzliche Nachricht von Ihrem schwer getrübten Gesundheitszustande und dennoch haben Sie mir vom 28. Februar einen vier Seiten langen Brief und ausserdem eine lange Notiz zugeschickt, wofür nicht nur ich, sondern die Wissenschaft Ihnen großen Dank schuldet.

Aus Ihrem Zirkular: „Dank und Abschied“, ersehe ich mit Freuden, daß Sie die volle Zuversicht haben, daß Ihre Weltanschauung eine große Zukunft habe. Es sind jetzt schon ausser der relativ kleinen Schar der Ihnen bekannten Anhänger bereits Millionen unter den Intellektuellen und den arbeitenden Volksschichten, besonders in Frankreich, Italien u. in Russland, selbst in der zaristischen Ausdehnungb, die Ihre Anschauungen teilen, wenn sie auch in der Oeffentlichkeit nicht die Monisten-Uniform tragen und sich oft nur sehr scheu zu ihr bekennen. Sie sind der Ueberzeugung, daß der Neubau der zerrütteten Kultur nach dem Kriege in unserm Sinne wirken wird. Das ist zweifellos. Besonders aus der rußischen Volksseele heraus wird die Geistesfreiheit zur allgemeinen Tatsache werden, sobaldc der culturfeindliche Fanatismus der jetzt herrschenden rußischen Anarchisten u. Kommunistend, besonders nach der Befriedigung des Landhungers der Bauern, besiegt sein wird.e

Daß auch nur ein geringer Teil Ihrer Lebensarbeit verloren sei, ist nicht im mindesten zu fürchten. Von Ihren speziellen Facharbeiten ist dies selbstverständlich. Aber auch von Ihren naturphilosophischen Leistungen wird kein Jota verloren gehen. Ihre Arbeiten sind klassisch, d. h. sie bleiben wahr wie auch die Wissenschaft sich vertieft, verbreitert und ihr Höhenniveau steigertf.

g Jede Gestaltung, welche ein Gelehrter in den unendlichen Block der Wissenschaften hinein- und heraushaut, ist h selbstverständlich nur ein Torso, an dem wichtige Teile fehlen, welche der weitere Fortschritt ergänzt oder selbst verändernd wirkt. Aber die klassische Leistung verliert ihren kulturhistorischen Wert nicht. ||

Ihre Lehre von der Anthropogenesis und Ihr „Stammbaum“ des Menschengeschlechtes sind ein unverwüstlicher Gewinn für die Lösung der betreffenden Erkenntnisprobleme, wenn auch von anderen Gesichtspunkten aus sichi eine differente Anschauung ergibt. Sie ersehen aus meiner Monographie: „Biomechanik“, daß ich anderer Auffassung wie Sie bin und dennoch spreche ich als Kulturmensch mit Begeisterung von der Ihrigen. Dies wird Ihnen paradox erscheinen und ichj erlaube mir eine etwas ausgreifende Erklärung abzugeben.

Wenn mir das Schicksal noch die gehörige Arbeitszeit gönnt, gedenke ich eine Wanderung durch die Lösungsversuche der großen Erkenntnisprobleme in der Geschichte der Philosophie zu machen. Ich bin bis jetzt zu demk Schlusse gekommen, daß die scheinbarst größten Widersprüche wesentlich die Wahrheit enthalten. Ich will ein Beispiel anführen. Besonders wir Naturwissenschaftler hegen keinen Zweifel, daß der Satz: „Es gibt nichts im Bewußtsein, was nicht früher in den Sinnen war und daß das Gehirn des neugeborenen Kindes eine völlig unbeschriebene Tafel sei“, richtig ist. Aber größte Denker, abstrahierend von antiken, sind Aprioristiker, d. h. sie lehren, daß im Seelenleben angeborene Begriffe und Anschauungen vorhanden sind. Ich nene [!] Leibniz, Spinoza, Kant. Hier scheint ein kolossaler Widerspruch zu bestehen, der dadurch nicht ausgeglichen ist, daß die Aprioristiker den Sinnen eine große Rolle zuschreiben. Ich neige mich vollständig der ersten Ansicht zu, halte aber die Aprioristik für vollständig berechtigt. Aprioristisch ist nämlich die Anlage und Entwicklung der Sinnesorgane und des ganzen Seelenorgans und unsre ganze Entwicklung hängt mit den Erscheinungen und Kräften des Kosmos zusammen. Ohne diesen Apriorismus könnten die Sinnesorgane überhaupt keine richtigen Eindrücke von Materie, Energie und Bewegung erhalten. Das Gewebe des Nervensystems ist Gewebe aus dem allgemeinen Weltgewebe. Die unverläßliche Aufklärung durch die Sinne ist ein Produkt der Einseitigkeit und Unvollständigkeit der Eindrücke und Unvollständigkeitl aus denen falsche Begriffsbildungen und Schlüße hervorgehen, wenn die Lückenhaftigkeit der Wahrnehmungen nicht erkannt wird. ||

Diese Einseitigkeit wird immer ergänzt und die Lückenhaftigkeit der Voraussetzungen für Schlüße immer mehr begrenzt. Zudem rührt die gewaltige Mehrheit unsrer Begriffe und Anschauungen von der „Erziehung“ im weitesten Sinne ab und werden in uns mit allen Fehlern hineingetragen. Bei diesen übernommenen Begriffen, m Schlüßen und Anschauungen fehlt das Sicherheitsventil der direkten persönlichen Wahrnehmung.

Ihr Stammbaum des Menschengeschlechtes ist ein individuelles Meisterwerk. Nur ein Mann von Ihren Kenntnissen und Erkenntnissen mit jener schöpferischen Phantasie n (Kombinationsfähigkeit) ausgestattet, die Leibniz als das wichtigste Requisit wissenschaftlicher Schöpfung erkannte, konnte diese Leistung vollbringen. Nur jene, die im Rahmen der schule weiter aufbauen, aber keiner grundlegenden Meisterschöpfung fähig sind, verkennen und verhöhnen die Bedeutung der „Phantasie“ in der Wissenschaft.o

Bei Ihrer Anschauung folgen sich die höheren Pflanzen- und Tierorganismus auseinander von den ersten Anfängen der unterzelligen Lebewesen bis zu den höchsten Gattungen.

Nach meiner Anschauung entwickeln sich die Organismen aus denselben ursprünglichen Formen nebeneinander und darum findet man bei den höheren Organismen vom ersten Keim an die Anklänge an verschiedene niedere p. Die kleinsten Nuancen von Stoffeigenschaften, Stoffverteilung und vorhandenen Energien in Harmonie mit der fördernden Umgebung entstehen weiter- und andersorganisierte Wesen. Bleibtq die mannigfacher Uebereinstimmung der verschiedensten Zellen, Gewebe in den höheren Organismen mit jenen der niederen. ||

Die Vergleichung der prähistorischen mit der historischen Flora und Fauna beweist den kolossalen Einfluß des kosmischen Milieus.

Bei der Entwicklung von den niederen Wesen zu den höheren und noch mehr bei der Entwicklung aus anorganischen Gebilden ist das Auftreten von Stoffen mit hohem Molekulargewicht und von diesen, bei chemischer Isomerie, in den verschiedensten Nuancen unds deren Mischung in ausserordentlich kleiner Verteilung mit dem betreffenden Zuwachse der dadurch bedingten gesteigerten Energietätigkeit, spielten bei der höheren Entwicklung eine große Rolle. Durch letztere Beeinflussung wurden die Teilungs-t und Abscheidungsvorgänge im höchsten Grade beeinflußt und die Gesamtentwicklung zum Teil in andre Bahnen gelenkt. Die Zellen konnten mehr differenzierte Leistungen übernehmen.

Die Differenzierung der Zellen ging durch „Zwang“ zuru Funktion weiter vor sich. Schon bei niederen Formen wurden einzelne Zellen zur Leitung des Saftstroms, also zur Primitivform des Gefässsystemsv, andre Zellen übernahmen w die Rolle der Ableitungx der in den Zellen auftretenden Reize oder die Zuleitung dery ihren nötigen Reizen, und so entstand die „Primitivform“ des Nervensystems.

Aus der ersten Primitivformz entwickelte sich das Gefäßsystem; aus der zweiten das die [!] Kräfteverteilung im ganzen Organismus. Alle diese Entwicklungsphasen entstanden durch undaa parallel harmonischbb mit den mit den kosmisch [!] Verhältnissen in verschiedenen Epochen nacheinander und es ist eigentlich paradox anzunehmen, daß betreffende Gattungskeime nur vereinzelt zustandegekommencc seinen und an einzelnen Orten.

Ich habe dies alles in meiner Monographie: „Biomechanik und Morphogenesis“ ausführlich entwickelt.

Man sieht, daß die Entstehung neuer Arten durch ein Zusammentreffen von geeigneten Stoffen mit ihren Energien und der passenden kosmischen Umgebung zu Stande kommen.

Die Entstehung neuer Lebensformen ist ein „Ereigniss“ inmitten der enormen Tätigkeit dd in der Natur und nicht im anthropomorphistischen Sinne als Ergebniss eines „Bauplanes“ und eines „Zweckes“.ee ||

An diese Baumöglichkeit mit vollem Gelingen des Baues führt uns zur „Ideenlehre“ Platos. Als solche dachte sich der griechische Philosoph den gelungenen Bauplan der Naturff. Für ihn waren diese Ideen das wirklich „Reale“ (!)gg, während er von der Einreihung der nach diesem „Plane“ entstandenen Einzelwesen hh keine klare Anschauung hatte und als „Vielheit“ in der Einheit bezeichnete.ii Durch diese Verwirrung entstand der verworrene und verwirrende Streit der „Realisten“ und „Nominalisten“ bis zum Ausgang des Mittelalters, obwohl schon antike Denkerjj die „Pferdigkeit“ Plato’s verhöhnten und sein großer Schüler Aristoteles die Ideenlehre verwarf. Dieser große Stagyrite erkannte, daßkk die Zwecksstrebigkeit („Entelechie“) schon im Keime jedes Einzelwesens einer Gattung vorhanden sei, welche zur vollen Durchlebigkeit nötig sei, und dazu gehoert auch die Fortpflanzungsfaehigkeit.ll Er hat dabei mm den „Zweck“ zu sehr doktrinär als „Kategorie“ aufgefaßt. Die „Idee“ Plato’s bedeutet also die gemeinschaftlichen Eigenschaften bei den Objekten derselben Art, also das, was wir als „Typus“ bezeichnen.nn ||

Ich komme nun zur Erörterung Ihrer Ablehnung der „Wünschelrute“ und damit auchoo des Pendels. Ich kann darüber nicht verwundert sein, weilpp ihre akademischeqq Jugend in die Epoche des schmählichen Kesseltreibens von Seite der hochbedeutenden deutschen Gelehrtenwelt gegen den hochstehenden und ganz mißverstandenen Reichenbach fällt, der im Momente des gegen ihn in Deutschland tobenden Sturmes von den Wiener Gelehrten, die seine Anhänger und Adepten waren, feige im Stich gelassen wurde. Und dennoch bin ich über Ihre Ablehnung sehr verwundert. Sie sind doch unter allen deutschen Naturforschern der beste Kenner und Bewunderer des großen Naturforschers Johann Wolfgang Goethe. Dieser hat mit seiner in der Kulturgeschichte ohnegleichen dastehenden Voraussetzungslosen Tatsächlichkeitssinne die „Ruten- und Pendeltatsachen“ anerkannt, obwohl er seinerzeit nicht den geringsten Anhaltspunkt für deren Verständnis haben konnte und sie für seinen Beobachtungs- und Ideenkreis ganz unvermittelt auftauchten. Aber Goethe gehörte nicht zu den „gelernten“ Gelehrten; er war ganz Autodidakt und daher auch unbefangen. Sie, geehrter Meister, gehören zu den „gelernten“ Gelehrten: er war ganz Autodidakt und daher auch unbefangen. Sie, geehrter Meister, gehören zu den „gelehrten“ Gelehrten und haben viel als Kenner u. Könnerrr aus guter Schule mitgebracht. Hätte ich das Glück mit Ihnen, wenn auch nur durch 2 Stunden, eine Besprechung die Frage mit Zuziehung von Demonstrationen gehabt und wäre Ihr Gesundheitszustand geeignet, auf solche Fragen einzugehen, so würden Sie gewiß ein Adept der Lehre und als Eingeweihter ein offenerss Bekenner sein. Sie würden die ausserordentliche Bedeutung der dabei zugrunde liegenden Emanationserscheinungen erfassen und zwar für den ganzen Stoff- und Energieaustausch im Kosmos und innerhalb der Materie überhaupt. Daß diese Fragen eine kolossale Bedeutung für den Wohlstand der Menschheit haben und die ungeheure ökonomische Verwüstung des jetzigen Krieges auszugleichen imstande seie, würde Sie als Menschen und Kulturfreund gewiß mehr als nebenbei interessieren. ||

Geehrter Meister! Als Sie seinerzeit die Einführung der evolutionistischen Anschauung in den gesamten Schulen verlangten, war dies vor allem taktisch noch nicht zeitgemäß. Da hielt bekanntlich Virchow 1877 seine Rede gegen Sie auf der Münchner Naturforscherversammlung. Als ich ihn 1878 in Paris traf, fragte er mich wie mir seine Rede gefallen habe. Diese war gewiß vom Standpunkte der Redekunst die beste die er je gehalten hat und übte eine große Wirkung aus. Ich erklärte ihm aber, daß, wenn man selbst vom taktischen und strategischen Standpunkte mit seiner Rede vollständigtt einverstanden ist, so müsse man doch erklären das sie nicht gehalten werden sollte. Betroffen fragte mich Virchow: warum? Ich sagte ihm, wir unabhängig denkenden Naturforscher müssen eigentlich zumeist gegen jene mächtigen und politisch einflußreichen Männer ankämpfen, welche die gefährlichen Gegner der Geistesfreiheit in der Wissenschaft und im Leben sind. Wir sollen aber nicht vorgehen, wenn einer von uns Meinungen äußert und Anforderungen stellt mit denen wir nicht ganz einverstanden sind. Virchow erzählte mir, Bismarck habe die Mittel für ein anthropologisches Museumuu verweigert, wenn nicht ein hervorragender Naturforscher gegen Haeckel auftritt; dies sei der Grund gewesen, daß er sich zur Münchnervv Rede entschlossen habe. Entre nousww glaube ich, daß Eifersuchtxx gegen Ihre Popularität psychologisch mit im Spiele war.

[Kuvert]

Manuskript

H. Geheimrat Professor

Ernst Haeckel

Jena

Recommandirt

Aufgabe: Professor Benedikt

Wien IX. Mariannengasse 1.

a gestr.: den 5., eingef.: Anfangs; b handschriftl. eingef. durch Einführungszeichen, Text am unteren Rand von S. 1: besonders in … zaristischen Ausdehnung; c gestr.: wenn; eingef.: sobald; d eingef.: u. Kommunisten; e handschriftl. eingef. durch Einführungszeichen, Text am unteren Rand von S. 1.: sobald der … sein wird.; f gestr.: vergrößert; eingef.: steigert; g gestr.: Jede Ge Jede Gestaltung die ein Meister in der Wissenschaft; h gestr.: natur; i eingef.: sich; j eingef.: ich; k eingef.: dem; l eingef.: und Unvollständigkeit; m gestr.: schließen; n gestr.: ausgestattet; o eingef. durch Einführungszeichen, Text am unteren Rand von S. 3: Nur jene, … der Wissenschaft.; p gestr.: Organismen; q gestr.: Darum; eingef.: Bleibt; r gestr.: hege; eingef.: mannigfache; s eingef.: und; t korr. aus: Trennungsvorgänge; u gestr.: der; eingef.: zur; v gestr.: Säftesystems; eingef.: Gefässsystems; w gestr.: die Rolle der einzelnen Zellen auftretender Reizungen; x gestr.: und Zuleitung; eingef.: leitung; y gestr.: von; eingef.: der; z gestr.: Formen; eingef.: Primitivform; aa gestr.: wickelten sich; eingef.: standen durch und; bb eingef.: harmonisch; cc korr. aus: zustandekommen; dd gestr.: in der Thätigkeit; ee handschriftl. ergänzt: Die Entstehung … eines „Zweckes“; ff gestr.: den er als eine bewußten Akt der Natur ansah.; eingef.: der Natur; gg gestr.: Lebende; eingef.: „Reale“ (!); hh gestr.: nicht recht; ii handschriftl. eingef. mit Einführungszeichen, Text am unteren Rand von S. 5: und als … Einheit bezeichnete.; jj gestr.: die Eleaten; eingef.: antike Denker; kk eingef.: daß; ll handschriftl. eingef. mit Einführungszeichen, Text weiter am unteren Rand von S. 5: und dazu … die Fortpflanzungsfaehigkeit.; m gestr.: die Zweckmäßigkeit; nn handschriftl. ergänzt: Die „Idee“ … „Typus“ bezeichnen.; oo gestr.: zu dem Zusammenhang mit; eingef.: auch; pp gestr. bei; eingef.: weil; qq korr. aus: ihrer akademischen; rr eingef.: als Kenner u. Könner; ss eingef.: offener; tt eingef.: vollständig; uu gestr.: Sammlung; eingef.: Museum; vv gestr.: jüngsten; eingef.: Münchner; ww gestr.: nus; eingef.: nous; xx gestr.: das ein Versuch; eingef.: daß Eifersucht

 

Letter metadata

Genre
Recipient
Dating
05.03.1918
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 7308
ID
7308