Keller, Conrad

Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 5. Oktober 1899

Zürich, dℓ. 5. Oct. 1899.

Verehrtester Herr College!

Sie waren so liebenswürdig, mir in Zürich Ihr neuestes Werk in Aussicht zu stellen. Der Verleger in Bonn hat mir denn auch bald Ihre „Welträthsel“ zugeschickt. Das Buch hat mir seither viel Genuss bereitet u. ich danke Ihnen herzlich für die Schenkung. Ich fand darin einfach ehrlich ausgesprochen, was ja im Grunde genommen jeder vorurtheilsfreie Naturforscher denkt u. glaubt.

Wer geistig nicht direkt beim lieben Rindvieh rangieren will, hat ein Causalitätsbedürfniss, das befriedigt sein will. Ihr Werk wird für einen Gebildeten völlig dazu ausreichen. Es ist übrigens noch so temperamentvoll u. jugendlich geschrieben, dass ich Ihnen durchaus misstraue, wenn Sie im Vorwort versichern, mit Ende dieses Jahrhunderts wollen Sie einen Strich || unter Ihre Lebensaufgabe machen. Der Weg zur Hölle war allemal mit guten Vorsätzen gepflastert!

Ob Sie Ihre Gegner später doch noch einmal necken?

Sie werden sicher Erfolg haben. Zwar wird es von Berlin aus keine Orden regnen, die heutigen Hohenzollern haben Sie etwas unsanft behandelt. Ich muss Ihnen übrigens gestehen, dass der jetzige Kaiser trotz seines Mysticismus eine moderne Ader besitzt, die mir sympathisch ist. Er arbeitet wenigstens tüchtig für die Entwicklung Deutschlands u. hatte offene Augen nach aussen.

Gift u. Galle werden die Ultramontanen u. Evangelisch-Orthodoxen speien. Malesch! Es macht nichts! sagt der bedächtige Araber.

Meiner unmassgeblichen Meinung nach kommt Ihr Werk zur richtigen Zeit. Wir athmen bei uns freie Luft, dagegen wird in Deutschland die Reaktion immer üppiger u. dreister. || Es ist dies kein Wunder, denn die Socialdemokraten besorgen ja auch bei Ihnen, wie bei uns die Geschäfte der Römlinge. Uns war das stets verdächtig u. wir weisen die Herren Socialdemokraten, die ich stets für kulturfeindlich gehalten habe, gebührend zurück.

Die Freiheit des Individuums wird von Jesuiten u. Socialisten ungefähr gleich hoch taxirt, nur sind erstere die Schlaueren. Freuen wir uns, wenn die Reaction noch dreister wird – um [so] schneller hat sie abgewirtschaftet!

Das deutsche Volk hat sich in den letzten Decennien so kräftig entwickelt, dass man unbesorgt sein darf.

Ihr Werk wird übrigens keine Gefahr bedeuten, denn ich habe durch das Studium der Ethnologie u. durch den persönlichen Verkehr mit Naturvölkern erfahren, dass diese auch ohne Herrgott die primaeren Tugenden vortrefflich entwickelt haben. Das werden wir hoffentlich auch zu Stande bringen. Freilich bedarf es wiederholter und kräftiger Suggestivmittel, um neuen Ideen Eingang zu verschaffen; das geht nur langsam u. selbst || ein Titane wie Bismarck musste sich schliesslich mit Rom abfinden.

Wir haben indessen keinen Grund, an dem Sieg der auf naturwissenschaftlichem Boden gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse zu verzweifeln, ich meine die letzten Decennien haben doch ein erfreuliches Resultat ergeben.

Sehr ungeschickt haben indessen die Freidenker in Deutschland operirt. Dass in den Vorstand ein zürcherischer Botanikprofessor gewählt wurde, hat Kopfschütteln verursacht. Wie man dazu kam eine geistige Null u. gesellschaftlich völlig abgewirtschaftete Persönlichkeit zu wählen – das war uns einfach unverständlich.

War das taktisch ganz verfehlt, so hoffe ich, dass Ihr Werk diesen Lapsus wieder gut mache u. mit diesem Wunsch verbleibe ich mit freundschaftlichen Grüssen

Ihr ergebenster

C.Keller

 

Letter metadata

Recipient
Dating
05.10.1899
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 6771
ID
6771