Breitenbach, Wilhelm

Ernst Haeckel an Wilhelm Breitenbach, Brackwede, 14. März 1915

Brackwede, 14.3.1915

Sehr geehrter Herr Professor!

Mein Versuch, eine besondere Verlagsgesellschaft zur Wiederherausgabe der „Neuen Weltanschauung“ ins Leben zu rufen, scheint Erfolg zu haben. Ich habe erst etwas über 100 Rundschreiben verschickt und schon sind 30 Anteilscheine gezeichnet worden, also ein recht hoher Prozentsatz, der deutlich zeigt, dass das Interesse an der Zeitschrift gross ist. Leider habe ich nur verhältnissmässig wenige Adressen der bisherigen Abonnenten, da mir die Liste derselben natürlich nicht zur Verfügung steht. Ich bin einstweilen auf Herren angewiesen, deren Adresse mir durch Korrespondenz oder sonstwie bekannt geworden ist. Ich will aber versuchen, ob nicht durch den Buchhandel das Rundschreiben den seitherigen Abonnenten bekannt geben kann.

Meine persönliche Ansicht ist, dass wir mit der Neuherausgabe warten bis nach dem Kriege. Dann wird ja eine Zeitschrift wie die Neue Welt Anschauung wieder eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben. Ich teile nämlich vollkommen Ihre Meinung, dass nach dem Kriege die Reaktion sehr kräftig auftreten wird. Wenn man jetzt sieht, wie mit dem lieben Herrgott gearbeitet wird, wie die Pfaffen aller Schattierungen Betstunden über Betstunden abhalten, wie hochgestellte Personen den himmlischen Bundesgenossen für sich und das Heer in Anspruch nehmen, dann kann es einem übel werden. Es ist nur erfreulich, dass wenigstens die ‚Oberste Heeresleitung’ in ihren Tagesberichten bisher sachlich geblieben ist und den lieben Gott aus dem Spiel gelassen hat. Weite Kreise, in die bis vor dem Kriege die Aufklärung gedrungen war, geraten durch alle diese Machenschaften wieder in Verwirrung || und müssen erst wiedergewonnen werden. Unsere freigeistige Bewegung wird durch den Krieg um Jahrzehnte zurückgeworfen und wir werden in Hülle und Fülle zu tun bekommen, um das Verlorene wieder zu gewinnen. Es würde mich freuen, wenn unsere Zeitschrift kräftig dabei mitwirken könnte.

Ihre in Ihrem letzten Briefe zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass wir schliesslich der gewaltigen Uebermacht Englands unterliegen würden, ist objektiv nicht ohne Berechtigung, wenn man sich subjektiv auch noch so sehr dagegen sträuben mag. Nur wer England und seine unerschöpflichen Hülfsmittel aus eigener Anschauung kennt, nur wer die zähen Engländer bei der Arbeit gesehen hat, kann beurteilen, wie ungeheuer schwierig der Kampf gegen dieses Volk sein wird. Der bisherige Verlauf des Krieges hat uns schon oft gezwungen umzulernen. Früher war man auch in militärischen Fachkreisen der Ansicht, ein moderner Weltkrieg zwischen europäischen Grossmächten werde in wenigen Wochen durch ein oder zwei gewaltige Entscheidungsschlachten entschieden, keine Grossmacht könne einen modernen Krieg wirtschaftlich länger wie einige Monate aushalten u. dgl. So sollte auch die Entscheidung über den Besitz der Kolonien, mit anderen Worten die Entscheidung in einem Kriege mit England auf dem Kontinent fallen. Mir scheint auch das nicht richtig zu sein. Wir haben ja jetzt bereits angefangen, England auf dem Meere zu bekämpfen, indem wir es durch die Unterseeboote gewissermassen blockieren lassen. Ob freilich diese Operationen den gewünschten Enderfolg haben werden, scheint mir nach dem bisherigen Verlauf zweifelhaft zu sein. Gewiss, wir vernichten eine ganze Anzahl englischer Handelsschiffe, wir müssen aber auf der anderen Seite bedenken, dass die englischen Werften in der Lage sind, den Verlust glatt zu ersetzen. Die 130 Schiffe, die wir bis jetzt seit Ausbruch des Krieges vernichtet haben sollen, bedeuten für England weniger wie die meisten || Leute bei uns ahnen, denn auch in Friedenszeiten verliert die englische Handelsflotte jährlich einige Hundert Schiffe, ohne dadurch merklichen Schaden zu erleiden. Wir haben noch nicht gehört, dass unsere Unterseeboote die amerikanischen Waffen und Munitionsschiffe von England und Frankreich fern gehalten hätten und ob sie wirklich schon englische Transportschiffe versenkt haben, weiss Niemand, amtlich zugegeben ist es von unserer Seite noch nicht.

Wollen wir England niederzwingen, so müssen wir zunächst dauernd am Kanal festen Fuss fassen und dann eine Invasion vornehmen. Aber eine solche wird ungeheuer schwierig sein, denn jetzt wird natürlich die ganze Küste Englands befestigt und mit weittragenden Geschützen bespickt sein. Es nutzt auch nicht mehr, etwa Hundert Tausend Mann nach drüben zu werfen, wir müssen vielmehr eine sehr große Armee für diesen Zweck haben, denn heute würde uns England in seinem eigenen Lande ebenfalls eine zahlreiche Armee gegenüber stellen, und dass die englischen Soldaten nicht die Schlafmützen und Feiglinge sind, als die sie Anfangs hingestellt wurden, das kann man von jedem Verwundeten hören, der gegen Engländer gefochten hat. Auch kann die Landung eines modernen Riesenheeres nur an ganz wenigen Punkten unternommen werden, nämlich nur in einem modernen Hafen mit den nötigen Hebewerkzeugen, also Krananlagen etc. Die hierfür in Betracht kommenden Häfen werden aber heute so befestigt sein, dass die Sache fast unmöglich sein wird. Kurzum, ich sehe noch nicht, auf welche Weise die vielen Schwierigkeiten überwunden werden können und wie es uns möglich sein wird, England so nieder zu zwingen, dass wir ihm den Frieden diktieren können. Gewiss, könnten wir dem Lande für einige Monate die Lebensmittelzufuhr unterbinden, dann würde die Sachlage gleich eine andere, ich zweifle aber, ob uns das mit Erfolg gelingen wird. ||

An den Dardanellen braut sich ein neues Unwetter zusammen, das die Keime zu ganz neuen Konflikten enthält. Es ist doch klar, dass nur England oder nur Russland Konstantinopel mit Einschluss der Dardanellen besitzen kann. Jede Macht aber wird, wenn sie im Besitz ist, die Meerenge luftdicht zuschliessen und sich dadurch die andere dann zum Todfeind machen. England kann doch gar nicht zugeben, dass Russland zu einer Mittelmeermacht wird und dann in der Lage sein wird, den Weg nach Indien zu verlegen, wenn es sein muss, mit Hülfe von Bundesgenossen, die ihm für diesen Zweck später nicht fehlen würden. Deshalb sehe ich in der Dardanellenfrage die Keime zu dem unausbleiblichen Kampfe zwischen England und Russland, der dann zugleich zu einem Entscheidungskampfe um den Besitz von Indien werden muss.

Italien spielt eine jämmerliche Rolle in dieser grossen Zeit. Sieht man denn dort nicht, dass es zu einer Macht zweiten Ranges herabgedrückt wird, wenn England oder Russland im Besitz der Dardanellen sind? Es ist traurig, dieses Volk, das sein Emporkommen doch in erster Linie uns zu verdanken hat, zu sehen. Die Herren Italiener wollen wohl gern im Trüben fischen, aber sie haben nicht den Mut, Farbe zu bekennen und ihre Stellung in der Welt mit den Waffen in der Hand zu vertreten. Sie werden noch erkennen, welchen Fehler sie gemacht haben.

Ich hoffe gern, verehrtester Herr Professor, daß es Ihnen den Umständen nach gut geht und dass die Krankheiten in Ihrer Familie nicht schlimmer werden.

Mit besten Grüssen in alter Treue

Ihr ergebenster Schüler

Dr. W. Breitenbach

 

Letter metadata

Recipient
Dating
14.03.1915
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 6163
ID
6163