Claus, Carl

Carl Claus an Ernst Haeckel, Wien, 1. Dezember 1873

Wien d. 1. Dec. 1873.

Sehr geehrter Herr College!

Für die Zusendung Ihrer jüngsten Schrift über Infusorien sage ich Ihnen meinen besten Dank. Ich kann der Auffassung, die Sie in derselben vertreten vollkommen ‒ bis auf den Begriff der Zelle und des Nucleus ‒ beistimmen, um so mehr, als ich schon mit länger als 15 Jahren den Infusorienorganismus ziemlich in derselben Weise gedeutet habe. Eine meiner Thesen (bei Gelegenheit der Habilitation in Würzburg) bezog sich auf die Deutung des Infusorienleibes und habe ich damals mit Kölliker eine lebhafte öffentliche Discussion geführt. In meiner Ihnen bekannten Schrift über die Grenze zwischen Thier und Pflanze finden Sie auf Seite 9 in einer längern Anmerkung im Wesentlichen Ihre Auffassung wieder. Freilich scheint gleich der Anfang der kurzen Auseinandersetzung || merklich abzuweichen, ja zu dem entgegengesetzten Resultate zu führen. Indessen ist das nur Schein, begründet durch die Verschiedenheit meiner und Ihrer Begrenzung des Zellbegriffes. Ich konnte unmöglich ein Ding mit so complicirter vielseitiger Differenzirung wie den Infusorienleib noch dem Begriff der Zelle subsummiren, zumal kernähnliche Bläschen (Opalina) auftreten und der Nucleus, woran ich noch jetzt ebenso festhalte und was Sie als Consequenz Ihrer mit Stein ja übereinstimmenden Deutung der Embryonalkugeln als Zellen nothwendig auch zugestehen müssen, eine Zellea, beziehungsweise einen Ballen zahlreicher Zellen darstellt. Ist der Nucleus des Embryo’s ein Zellkern und der Embryonalleib einer Zelle gleich, so ist der Nucleus des Mutterthiers, als dessen Theilstück der Embryo hervorgegangen, unmöglich einem Kerne gleich zu erachten, sondern einem oder zahlreichen Kernen + Protoplasmaumlagerung, die ja von dem Nucleus des ursprünglichen Embryo’s aus während des Wachsthums durch Sonderung umgebender Theile und Anziehung entstanden sein kann, sowie sich innerhalb der Zelle um einen || Kern oder Theilstücke des Kernes b Ballen von Protoplasma sondern können. Der Nucleus der Embryonalkugel und des schwärmenden Embryo ist eben etwas unfertiges im Vergleich mit dem ausgebildeten Infusorium und darf morphologisch mit jenemc nicht direct identificirt werden.

Jedenfalls ‒ mögen wir die Zelle enger oder weiter dem Begriffe nach begrenzen ‒ liegt das wesentliche der Auffassung, in dem sied mit der meinigen zusammenfällt, darin, dass wir es mit Organismen zuthun haben, die zwar auch von einer Zelle ihren Ausgang genommen haben aber im Zusammenhang mit dem Ausfall der Furchungene nicht zu einer zelligen Sonderung der Organe gelangt sind. Zahlreiche Differenzirungen, die ich ganz ebenso wie Sie hervorgehoben habe, vereinigen sich hier, in derselben Zelle; da wir aber einen Theil des Leibesf (nämlich den einfachen oder mehrfachen Theil des Nucleus) mit einem oder mehreren Kernen erfüllt, g ihn auch kleine Zellen zur Sonderung bringen sehn, diesen Theil also als einen Ballen von Zellen anzusehn haben, können wir wie ich als nothwendige Folge mir zugestehn muss, den Infusorien-||leib nicht als eine Zelle ansehn, wie Sie ja auch h gezwungen sind, dieses für Infusorien miti mehreren Nucleis zuzugestehn. Ich hoffe jedoch, Sie werden rücksichtlich des Nucleus nach nochmaliger eingehender Prüfung der Consequenzen zugestehn, dass Sie denselben beim ausgebildeten Infusorium unmöglich einem Zellkern gleichsetzen können. Und darin liegt der Kernpunkt unserer Differenz. Uebrigens habe ich j unter denk Infusorien stets nur die Ciliata und Suctoria gemeint; Sie haben mein Lehrbuch II Aufl. nicht genau auf die 5 Gruppen angesehn und demgemäß nicht recht citirt ich habe ja die Flagellaten entfernt und sie als zweifelhafte Organismus [!] in kleingedruckter Schrift behandelt und die 5 Gruppen der Suctoria, Holotricha, Heterotricha, Hypotricha, Peritricha unterschieden von Stein abweichend.

Hoffentlich geht es Ihnen recht gut und lassen Sie recht bald etwas von sich hören. Schwer genug wir Ihnen die Trennung von Gegenbaur fallen. Ich danke meinem Schöpfer [dass ich] aus diesem elenden Göttingen und von diesem hochmüthigen autoritätsstolzen Professorenvolk enfernt bin. Sie werden sich ja wohl zwischen den Herrn Selenka, Ehlers vielleicht auch Greeff, den Sie so treffend abgeführt haben, einen wählen, wie er ebensolchen Herrn wie Grisebachk, Henle, Sartorius pp. passt. Sie sind nach Lotze’s entscheidender Erklärung für eine deutsche philosophische Facultät unmöglich. Dies aus sicherer Quelle.

Mit freundlichem Grusse Ihr C. Claus

a eingef.: Zelle; b gestr.: neue; c eingef.: mit jenem; d korr. aus: sich; e eingef.: im Zusammenhang … der Furchungen; f eingef.: des Leibes; g gestr.: sehn; h gestr.: nun; i korr. aus: für; j gestr.: die; k eingef.: unter den; l irrtüml.: Griesebach

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
01.12.1873
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 5102
ID
5102