Hylak, Iwan Iwanowič

Iwan Iwanowič Hylak an Ernst Haeckel, Moskau, 6. Januar 1911

Seiner Excellenz

Herrn Geheimrath

von Heckel

Jena.

Aus einer russischen Zeitung habe ich Erfahrung gebracht, daß Sie, Herr Geheimrath, tausende Briefe aus der ganzen Welt bekommen und auf viele Antwort geben. Dies macht mich so dreist, daß ich es wage Sie mit gegenwärtigem Briefe zu behelligen.

Zwei Jahre zurück habe ich dem Graf Leon Tolstoj filosofische Erwägungen über Gott und Stoff geschickt, und bat ihn seine Meinung darüber zu || äußern. Meiner schwachen Ansicht nach, wenn Gott, wie die Kirche uns lehrt, wirklich existirt, allwissend und allmächtig ist, so kann er nicht die Welt regiren. Denn, um etwas zu regiren, muß man sehen; so bekommt man einen gewißen Eindruck, und erst dann muß man betrachten, nachdenken, vergleichen, erwägen, definiren etc und endlich zu irgend einen Schluß kommen. Wer allwißend ist braucht nicht nachzudenken, weil er weiß was gegenwärtig vorkommt, was morgen, über ein Jahr, und über tausend Jahre vorkommen wird. Daraus folgt, daß Gott eine unthätige, todte Vernunft besitzt und nicht nachzudenken braucht. Ich kann mich irren, aber mir scheint daß es so und nicht anders || sein kann. Die Kirche befielt mir Gott zu lieben, aber das kann ich nicht, denn ich zweifle daß er als „ein purer Geist“ existirt. Oder, wäre es denn möglich, daß ein Kraft an u. für sich selbst, ohne Stoff bestehen könnte? Eine jede Kraft ist doch nichts anderes als die Eigenschaft des Stoffes. Der Stoff besitzt die Macht der Zeugung, außer dem auch die Eigenschaft zur Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit zu streben. Soviel ich weiß, von solcher Eigenschaft macht die Physik keine Bemerkung.

Die heimliche Kraft z. B. welche den Kristall produzirt, gibt einem Jeden bestimmte Form, Volumen oder Umfang; die Kraft, welche die Bewegung der Säfte in den Pflanzen || verursacht, die Bahn der Himmelskörper veranlaßt – ist das alles nicht die Eigenschaft des Stoffes zu zeugen, zur Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit zu streben!? Wenn dies eine Thatsache ist, dann regirt das Weltall sich selbst: So wie ein in die Luft geworfener Stein Niemanden braucht um an die Erde zu fallen, da er vermöge der Schwere zu dem Mittelpunkt der Erde streben muß, so braucht auch nicht das Weltall Jemand, der es regiren müße. Ist das so, Excellenz? Das, was wir Naturgesetz nennen, ist doch nichts anderes als die Eigenschaft des Stoffes?

Graf Leon Tolstoj glaubte || an Gott; er behauptete zwar nicht geradewegs sein Dasein; er meinte nur, daß es eine Macht gibt, welche den Menschen in die Welt würft und macht ihn (d.h. den Menschen) zum Instrument seiner Wille, und das sollte, sagt er, ein jeder Mensch begreifen und wißen.

Auf meinen Brief ließ er mir durch Docteur Makowitzki antworten wie folgt: „ L. N. Tolstoj läßt Ihnen sagen, daß er mit Ihrer Filosofie über Gott und Stoff nicht einverstanden ist. Er selber erkennt geistigen Anfangsgrund an, der Stoff dagegen ist bloß die Grenze, die unsern Geist beschränkt.“ || Im russischen Original heißt es [Xxx].“

Soviel ich verstehe, mit dem Ausdruck „geistigen Anfangsgrund“ meint L. N. Tolstoj die Macht, die den Menschen ohne seinen Willen in die Welt würft.

Ich möchte mich sehr glücklich schätzen wenn ich Ihre Ansicht darüber erfahren könnte, und im Falle, wenn Sie mich mit Ihrer gütigen Antwort beehren wollten (worauf ich kaum reflektiren darf), dann bitte ergebenst den Brief nicht zu frankiren. ||

Meine Adreße ist wie folgt:

Iwan Iwanowič Hylak,

Čistoprudný bulwár, Dom Počtamta

No 4, 2u étáz, kwartira 14

Moskau

Ich verharre mit vorzüglicher Hochachtung Ihrer Excellenz ergebenster Diener

I. Hylak

Moskau 6 Januar

1911.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
21.01.1911
Place of origin
Country of origin
Destination
Jena
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 48181
ID
46417