Ernst Haeckel an Hans Meyer (Bibliographisches Institut Leipzig), Jena, 8. November 1889
Jena
8 Novbr 1889
Hochgeehrter Herr!
Sie hatten die Güte, mir die bei Ihnen erscheinende „Allgemeine Naturkunde“ zu übersenden, und knüpften daran den Wunsch, mein Urtheil darüber gelegentlich zu erfahren. Ich habe diesem Wunsch in der neuen (VIII.) Auflage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ entsprochen (S. XIV und S. 770). Ich habe sie daselbst als „die größte und beste illustrirte populäre Naturgeschichte der Gegenwart“ empfohlen. ||
Aufrichtig bedauert habe ich, daß ich im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit und Bildung ein entschieden abfälliges Urtheil über Ranke’s „Mensch“abgeben mußte, welcher hinsichtlich seiner grundlegenden Principien und der Beziehung zur Entwickelungslehre im auffallenden Gegensatze zu den ausgezeichneten von Ratzel, Kerner, Neumayr bearbeiteten Theilen steht.
Während die Letzteren dem neu gewonnenen höchste0n Standpunkte der Wissenschaft entsprechend überall den Entwickelungs-Gedanken als Erklärungs-Princip verwenden, bemüht sich Ranke um das Gegentheil. ||
Das schiefe und entstellte Bild von der „Stellung des Menschen in der Natur“, welches Ranke entwirft, ist um so mehr zu bedauern als die übrigen Theile Ihrer Fortsetzung von Brehm’s Thierleben dem heutigen Standpunkt der Naturkunde in ansprechender populärer Form vortrefflich darstellen, und Ihre glänzende Ausstattung des nationalen Prachtwerkes – vor Allem die Fülle vorzüglicher Illustrationen – das höchste Lob verdienten.
Ich bemerke noch, daß ich zu Ranke (– den einer unserer ersten Biologen einen „elenden Heuchler“ nennt –) in keinerlei persönlicher Beziehung stehe. ||
Gestatten Sie mir, Ihnen beifolgend die VIII. Aufl. meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ zu überreichen, sowie den Atlas der „Challenger-Siphonophoren“, deren reizvolle Formen-Schönheit Ihren feinen Kunstsinn wohl interessiren dürfte.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Ernst Haeckel.