Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 27. August 1912

Jena 27. August 1912.

Hochverehrter Freund!

Von Einigen unserer monistischen Bundesgenossen bin ich gebeten worden, zu den bevorstehenden Verhandlungen unseres zweiten Monisten-Kongresses in Magdeburg irgend einen, wenn auch kleinen Beitrag zu liefern. In Folge dessen habe ich mich in den letzten Tagen entschlossen, einen kurzen Aufsatz über Energetik und Substanzgesetz zu schreiben, in welchem ich die geringfügigen Unterschiede in unserer beiderseitigen Auffassung des Monismus auf die verschiedene Begriffsbestimmung der Materie zurückführe. Während Sie, wie die meisten modernen Physiker, die Schwere als das wichtigste Attribut der Materie ansehen, erblicke ich es in der Raumerfüllung (Extensum, Spinoza). Demgemäß fasse ich auch den Äther a (Imponderabile) als Materie auf, und setze ihn der Ponderablen „Masse“ gegenüber. || Im Übrigen betone ich ganz besonders die wesentliche Übereinstimmung Ihres energetischen und meines mechanistischen Monismus, wie Sie es ja auch in Ihrer vortrefflichen Sonntagspredigt Nr. 35 getan haben. An dem Verständnis der neuen Relativitäts-Theorie (Einstein!) – mit Preisgabe des Äthers, an dessen Stelle die Energie im Vacuum arbeiten soll! – hindert mich mein Mangel an mathematischer Begabung, und mein „Anschauungs-Bedürfnis“!

Wenn Sie einverstanden sind, würde mein Assistent Dr. Heinrich Schmidt (– der kürzlich Archivar an meinem Phyletischen Archiv geworden ist –) die Adresse in Magdeburg zur Vorlesung bringen; sie würde kaum eine Viertelstunde in Anspruch nehmen (12–18 Minuten). || Die außerordentliche Energie und Geschicklichkeit, mit der Sie im Laufe der letzten 20 Monate das Gedeihen unseres Monistenbundes gefördert haben, kann ich nicht genug dankbar anerkennenb. Ich bewundere Ihre unermüdliche Schaffenskraft und Ihre vielseitige literarische Produktion um so mehr, als ich selbst leider in den letzten Jahren so gut wie Nichts mehr leisten konnte.

Meine Gesundheit und Arbeitskraft nimmt zusehends ab. Ich kann nur wenige Schritte gehen, mühsam und mit Schmerzen. Mit den Reisen ist es überhaupt vorbei. Meine letzte Arbeit ist jetzt die Sammlung meiner Lebens-Erinnerungen, für welche ein sehr umfangreiches (– und zum Teil für die Geschichte der Entwickelungslehre wichtiges –) Material in dem Phyletischen Archiv angehäuft ist. ||

Indem ich Sie bitte, unseren Monistischen Gesinnungs-Genossen in Magdeburg bestens zu grüssen, und ihnen mein aufrichtiges Bedauern auszusprechen, daß ich dort nicht persönlich erscheinen kann, bleibe ich mit herzlichsten Grüssen stets

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

P.S. Sie haben auf meine frühere Anfrage, ob ich Ihnen meine tropischen „Wanderbilder“ senden darf (40 Blätter Farbendruck, aus Ceylon und Insulinde) bisher noch nicht geantwortet. Falls Sie sie wünschen, stehen sie Ihnen zu Diensten.

a gestr.: (als; b korr. aus: bewundern

 

Letter metadata

Recipient
Dating
27.08.1912
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signature
1041, 50/17
ID
41418